In meiner Arbeit stelle ich immer wieder fest, dass Menschen in einer Opferrolle verharren und sich nicht getrauen, das zu leben, was sie wirkich tun möchten. Unsere immer bürokratischer organisierte Arbeitswelt, in der immer weniger Durchlässigkeit für neue Erfahrungsfelder für Menschen besteht, macht die Sache auch nicht einfacher. Nachfolgende Geschichte macht Mut, an seinen visionen festzuhalten, denn letztlich ist ein grosses inneres Feuer unaufhaltbar!
Das Beispiel von Roli Notter stammt aus dem Buch von Peter Baumgartner: „LebensunternehmerIn – Workshop für berufliche Weichenstellungen – Wie werde ich zur Lebensunternehmerin, zum Lebensunternehmer?“
„Roli Notter (…) war Maschinenzeichner, später Sozialarbeiter. Und bekam die Kündigung schliesslich in der Lohnbuchhaltung eines Verlags.
Eines seiner Sternfelder (das seinen beruflichen Visionen entsprach) war „Wohnberater“. Es war für ihn ein besonders attraktives Feld. Allerdings fehlten ihm für diese Tätigkeit die Voraussetzungen. Er war kein Schreiner und besass deshalb keine Kenntnisse über Holz und Innenausbau. Er wusste auch nichts über das Sortiment von Wohnausstattungshäusern, er hatte keine Ahnung von Verkauf – und hatte damit nichts in der Hand, was ihn legitimiert hätte, das Feld Wohnberater als konkreten Landeplatz ins Auge zu fassen. Aber es war ein Sternfeld, sein Sternfeld.
Roli Notter hat 32 Interviews mit Wohnberatern in 17 verschiedenen Geschäften durchgeführt. Heute arbeitet er als Wohnberater in einem dieser Unternehmen. Wie ist er dazu gekommen?
Erstens: Fachgeschäfte kennen lernen. Roli schaute sich in jedem Geschäft, das er für ein Interview betrat, genau um und merkte sich, welche Artikel wo ausgestellt waren. Nach dem Interview fertigte er aufgrund seines Gedächtnisses eine Skizze an: Wo befanden sich die Lampen? Wo die Sitzmöbel? Wo die Schlafzimmereinrichtungen?
Zweitens: Sortiments- und Materialkenntnisse erwerben.
Erklären wir’s am Beispiel der Tische. In grossen Möbelgeschäften waren zwanzig oder dreissig Esstische ausgestellt. Roli suchte zuerst den billigsten Tisch und notierte, was er kostete. Dann suchte er den teuersten. Schliesslich versuchte er herauszufinden, was den Unterschied zwischen den beiden rechtfertigte. Materialien? Herstellungsverfahren? Design? Auf diese Weise lernte Roli viel über Sortiment und Produkte. Einiges fand er anhand der Produktinformationen selber heraus, zum Teil musste er die Verkäufer fragen. Bei jedem Besuch bearbeitete er eine bestimmte Warengruppe. Er studierte auch die Ausstellungskonzepte und -techniken der verschiedenen Geschäfte sowie die Preise und verglich sie miteinander.
Das Wissen über sein neues Tätigkeitsgebiet wuchs auf diese Weise mit jedem Interview.
Eines Tages fragte ihn ein Interviewpartner, was ihn in dieses Geschäft treibe, er sei nun schon zum dritten Mal da, was ihn eigentlich so sehr interessiere. Roli Notter sagte, er sei dabei, sich beruflich neu zu orientieren und überlege sich, ob Wohnberatung nicht ein neues Tätigkeitsfeld für ihn sein könnte. Es war November, das Weihnachtsgeschäft stand bevor. Der Verkäufer, mit dem Roli sich schon sehr sachkundig über das Ausstellungskonzept und die Preise unterhalten hatte, sagte, sie brauchten jemand, der die Belegschaft während der kommenden Wochen verstärken könne. Ob er, Roli, sich nicht in der Personabteilung melden wolle?
Roli hatte in der Zwischenzeit gelernt, dass nicht die Personalabteilung, sondern der Abteilungsleiter der richtige Ansprechpartner ist, wenn es um eine Anstellung geht. Der Abteilungsleiter hat das Problem zu lösen, dass es für das Weihnachtsgeschäft an Personal mangelt – die Personalbteilung eines grösseren Unternehmens dagegen ist schon zu weit weg von den praktischen Problemen des Alltags und den Fähigkeiten, die zu deren Bewältigung gesucht sind.
Rolis Interviewpartner brachte ihn zu seinem Chef. Die Unterredung endete damit, dass ein Abteilungsleiter des Wohnausstattungshauses Roli fragte, ob er nicht für die Dauer des Weihnachtsgeschäfts bei ihm aushelfen wolle.
Roli war nie als Bittsteller aufgetreten – er stieg als Problemlöser in die neue Arbeit ein. Er half aus während der Weihnachtszeit – und behielt nachher die Stelle.“