Die klärende und etwas mühselige Reise zum Stein der Wahrheit
Oh mein Gott, was habe ich mir hier wieder eingebrockt! In stockfinsterer Nacht bin ich mit meinem Offroad-Camper auf eine Alp und dann von dort auf einem abenteuerlich holprigen Bergweg in Richtung eines Talkessels gefahren, der es mir angetan hatte. Vielleicht ist das wieder Auswuchs meiner High-Sensation-Seeker Seite, die mich schon in etliche brenzlige Situationen gebracht hat. Aber was kann schon einen Wahrheitssucher aufhalten auf der Suche nach dem Stein der Wahrheit.
Ich und die Wahrheit
Auf einer Visionssuche begegnete mir das Thema der Wahrheit. Ich habe das damals keineswegs erwartet. Lange habe ich diese Begegnung in mir getragen, ohne genau zu wissen, was dieses Thema mit mir und ich mit ihm zu tun habe. Gut, Erinnerungen an meine frühe Kindheit kamen hoch, Situationen, wo es mir ganz, wirklich ganz wichtig war, immer die Wahrheit zu sagen und ich schwor mir in meinem kindlichen Eifer, möglichst wenig zu reden, weil doch jedes Wort die Möglichkeit einer Unwahrheit in sich trägt.
Vor einigen Monaten, im Zusammenhang mit meinem Webseiten Relaunch, tauchte der Impuls auf, an dieses Thema der Wahrheit anzuknüpfen. Und nun wieder: Nach meinem waghalsigen Ritt in die Tiefe zieht es mich zu eben jenem Talkessel und das Thema der Wahrheit ist unmittelbar wieder präsent. Einen Augenblick lang kreist mein Verstand um die Idee, zur Quelle des Baches in der Nähe zu wandern. Das wäre doch metaphorisch passend: Der Quell der Wahrheit… Nur eben, es zieht mich magisch zu jenem Talkessel.
Abgründe im Leben
Auf direktem Weg zu meinem Ziel stehe ich unvermittelt vor einem unüberwindlichen Abgrund. Der Fels vor mir fällt senkrecht in die Tiefe. Der Talboden liegt scheinbar nur einen Schritt vor mir, nur eben einige Stockwerke tiefer.
Auch in meinem Leben bin ich immer wieder vor Abgründen und Krisen gestanden. Sie scheinen natürlicher Teil des Lebens zu sein und, bin nicht ich der, der in Kursen immer wieder über die positive Kraft von Krisen spricht? Die Krise als Veränderungskraft im Leben, um das Verhärtete, Veraltete loszulassen… Wie eine Häutung eines Reptils. Die alte Wahrheit loslassen und sich der neuen öffnen.
Es gilt jedenfalls die richtigen Schlüsse zu ziehen und einen anderen Weg zu finden. Rechts drüben vermute ich einen gangbareren Weg in die Tiefe.
Der einfache Weg
Auf meinem Weg zurück gelange ich an einen Bach. Nicht gerade so klein, dass er in einem Schritt überwunden werden könnte. Ich beginne mit meinem Blick die Situation einzuschätzen und beäuge die nassen, glitschigen Steine. Mein Blick sucht sich einen Weg, der möglichst geringe Gefahren birgt. Da erblicke ich einige Meter oberhalb von mir plötzlich die Brücke, die mich hergeführt hat.
Erstaunlich, wie schnell ich offenbar vergesse, was sich auf dem Weg bewährt hat, was als einfach erscheint. Erstaunlich, wie schnell sich der Blick verengt und ich einfach das im Blickfeld habe, was gerade so vor mir liegt. Wie oft würde sich der Weg zur Wahrheit viel einfacher gestalten, wenn ich umsichtiger meinen Weg suchen würde?
Über die Brücke geht mein Weg einen Abhang hoch.
Selbsterfüllende Prophezeiung und Schnelligkeit als Problemfaktor
Faszinierend, wie sich überall hier Quellen über das Feld ergiessen. Beim Gehen werde ich immer zögerlicher und hie und da werden meine Schuhe nass. Mir schiesst durch den Kopf, dass ich keine Ersatz-Socken mit habe, ich also besondere Vorsicht walten lassen muss auf diesem tückischen Gelände und schwubs, kaum habe ich diesen Gedanken gedacht, stecke ich bis zum Knöchel im sumpfigen Wasser fest und ich spüre, wie das kalte Nass meinen Fuss umschliesst.
Das Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung scheint sich in meinem Leben einmal mehr zu bewahrheiten. Genau das, worauf sich meine Ängste und Befürchtungen richten, trifft ein, als ob erst die Gedanken genau dem die Türe öffneten, was man vermeiden möchte. Einmal mehr ein Beweis, wie Wahrheit in meinem Kopf entsteht durch Denken, und durchaus nicht immer im positiven Sinne.
Oft wenn es grad schnell gehen sollte, geschehen auch Missgeschicke. Das Moos reckt sich trügerisch über den Wasserspiegel, hat aber keinerlei Tragkraft. Sorgfalt hätte das Missgeschick verhindert, aber wie sagt ein Mentor von mir so schön: ‘Schnell’ und ‘Scheisse’ liegen nahe beieinander. Da kommt mir auch die Geschichte von Momo in den Sinn: Um dem Geheimnis der Zeit näher zu kommen, braucht es Langsamkeit, das Erfolgrezept der Schildkröte von Meister Horus. Und wie sagt ein östliches Sprichwort so schön: «Wenn Du es eilig hast, gehe langsam». Wieviel tiefer könnten wir die Wahrheit ergründen, wenn wir ihr denn nur sorgfältig und langsam uns näherten…
Weiter geht die Reise, die mich wieder zu einem Weg führt, der sich alsbald gabelt.
Jenseits der ausgetretenen Pfade
Immer noch gab es bislang keinen vernünftigen Weg in die Tiefe, doch der linke steinige Weg scheint verheissungsvoll.
Verheissungsvoll sind oft nicht die ausgetretenen Pfade, denke ich zu mir. Im Gegenteil: Wir sind in der Menschheitsgeschichte an einem Punkt angekommen, wo es gefährlich wird, so weiterzumachen wie bisher. Wir brauchen in der globalen Krise neue Wege, und das sind oft nicht die einfachsten. Ich erinnere mich an die Wahl von Neo, der Hauptfigur vom Blockbuster ‘Matrix Revolution’: Nimmst du die blaue Pille, erlebst du die angenehme Illusion, nimmst du die rote Pille, erfährst Du die unangenehme Wahrheit. Die Wahrheit ist oft mühselig und unangenehm und es braucht Kraft, sich ihr zu stellen.
Das Treffen mit dem Jäger
Auf dem Weg hinab treffe ich auf einen Jäger, der etwas unfreundlich fragt, ob dieses gelbe Auto hinten im Tal mir gehöre. Es sei nur mit Vignette erlaubt, auf die Alp zu fahren und hier runter sei es überhaupt verboten. Ob ich denn überhaupt eine Getriebe-Untersetzung habe, um den steilen Weg wieder hochzukommen, fragt der Jäger stirnrunzelnd?
Scheisse, ich habe keine Getriebeuntersetzung und ja, ich habe auch keine Vignette und ich habe auch keine Verbotsschilder gesehen. Scham übermannt mich und ich fühle mich im Unrecht. Und gleichzeitig klingt in meinem Ohr die Rede des Häuptlings Seattle, wo er sich an den damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten richtete: «Wie könnt ihr die frische der Luft und das glitzern des Wassers kaufen? Könnt ihr denn mit dem Land tun, was ihr wollt, nur weil der rote Mann ein Stück Papier unterzeichnet und es dem weissen Manne gibt?» Wer hat sich denn das Recht herausgenommen, über diese Alp zu bestimmen? Wer hat hier zuerst gestanden und hat gesagt: «Das ist meins?» Ich stecke in einem Dilemma und weiss: Es gibt Regeln, die für das Funktionieren der Gesellschaft wichtig sind. Doch welche Regeln, so frage ich gerade in der Corona-Zeit, sind den rechtens und wem dienen welche Regeln? Wer hat das Recht, Wahrheit zu beanspruchen und damit auch andere in die Schranken zu weisen?
Im Talgrund und die Unmittelbarkeit der Wahrheit
Im Talgrund angekommen, bietet sich mir ein märchenhafter Blick: Wie schön ist die Welt, wie wahrhaft die Natur…
…und wie erschreckend weit hat sich der Mensch davon entfernt. Ich sehe die Pflanzen, Bäume, Berge. Sie alle scheinen mir so einfach und wahrhaftig. Sie nehmen das Leben in jedem einzelnen Augenblick genau so, wie es kommt. Sie sträuben sich nicht gegen Frost, nicht einmal gegen das Sterben. Wie erhaben erscheint mir das in diesem Augenblick. Und dagegen der Mensch: In den USA laufen gerade Wahlen. Jeder beansprucht die Wahrheit für sich, auch wenn sie genau das Gegenteil behaupten. Und ein Grossteil der ‘wahren’ Demokraten und Republikaner schaffen es nicht einmal mehr, miteinander sprechen, weil die Standpunkte so radikalisiert sind, dass das Finden einer gemeinsamen Wahrheit unmöglich erscheint. Als spiritueller Mensch habe ich auch zum ersten Mal Verständnis für Karl Marx, der Religion für Gift für die Menschheit hielt. Nicht unrecht hat er in dem Punkt, als das Religion auch nur ein Gebäude von Glaubenssätzen und Vorschriften ist und die Unmittelbarkeit der Erfahrung nicht selten vernebelt.
Wie sähe die Welt aus, wenn es keinen Asphalt gäbe und unsere nackten Füsse die Erde berührten, wenn wir im Rhythmus der Tages- und Jahrszeiten leben würden, auf dem nackten Boden schlafen würden… Welche Wahrheit würde dann bei uns im Mittelpunkt stehen, wenn es keine Medien gäbe, unsere volle Aufmerksamkeit auf uns und die Natur und Mitmenschen gerichtet wäre?
Der Stein der Wahrheit
Flussaufwärts bei einem Wasserfall entdecke ich den Stein der Wahrheit. Wo, wenn nicht hier, kann die Wahrheit erlebt werden. Im Energiekreis des sich hingebenden, fallenden Wassers.
In mir wird es still, wenn ich mich auf den Stein setze. Es kehrt Ruhe ein in die Unruhe des Geistes, in das Suchen und Denken. Und mir wird bewusst, dass die Wahrheit in mir, nur tief in mir verborgen ist. Ich erinnere mich an Saint-Excupéry: «Man sieht nur mit dem Herzen gut». Und wem, wenn nicht den sensiblen, achtsamen Wahrheitssuchenden mit Herz ist die Wahrheit vorbehalten. Wem, wenn nicht den Hochsensiblen. Ich staune, darüber habe ich noch nie nachgedacht, dass gerade die Wahrheit eine zentrale Ressource der Hochsensiblen ist. Und dass es vielleicht den Sensiblen unter uns vorbehalten ist und nicht den Vorlauten, die Wahrheit zu entdecken und zu verbreiten. Die Wahrheit gedeiht in der Stille, aber auch sie muss von den Sensiblen entdeckt werden. Wer kennt es von uns nicht, gerade Sensibilität führt ja oft dazu, sich im Trubel und Stressmustern zu verheddern.
Aufstieg und Auffahrt
Bereichert und innerlich still und berührt trete ich den Aufstieg an. Je näher ich meinem Camper komme, um so banger klingen die Bedenken des Jägers in mir nach. Nein, ich habe keine Getriebe-Untersetzung und vermutlich hat diese Gegend noch keinen Camper gesehen. Erstaunlich flott und gut geht die Fahrt dann aber nach oben, nur in einer Kurve schrammt der Seitenschweller einen Stein. Eine Schramme und eine Reise, die mir zurückgekehrt in der Alltagswelt, in Erinnerung bleiben wird.