Martin Bertsch zeigt in diesem Artikel, welche Probleme im Bereich des spirituellen Wachstums in der Beziehung von Lehrer und Schüler auftreten können und wie spirituelles Wachstum in der Neuzeit aussehen sollte.
Das östliche Modell der Schülerschaft in früheren Zeiten
Währenddem historisch gesehen im Westen lange Zeit die Kirche über gut und falsch richtete und mystische Strömungen ausserhalb der christlichen Dogmen kaum eine Chance hatten, pflegte der liberal offene Hinduismus im Osten einen anderen Umgang mit dem Thema spirituelle Entwicklung und Mystik. Hier stand nicht das religiöse Lehrgebäude im Fokus, sondern die Beziehung vom spirituellen Lehrer und seinem Schüler.
Die Beziehung von Guru und Schülerin oder Schüler war etwas Heiliges. Yoga Wiki dazu: „Die Liebe zwischen Schüler (Chela) und Lehrer (Guru) ist ein wichtiger Transmissions-Kanal, durch den die Weisheit fliesst“ (>siehe hier). Die Beziehung Meister-Schüler war geprägt von gegenseitigem Respekt und Liebe füreinander. Die unterschiedlichen Yoga-Praktiken und Traditionen gediehen und diversifizierten sich im Laufe der Geschichte aus dieser engen Beziehung.
Spirituelle Schülerschaft in neuerer Zeit
Im Westen blieb die religiöse Lehre die Grundlage eines spirituellen Weges. Mit dem Zerfall der Wissenshoheit und Dogmenkultur der christlichen Kirche traten unterschiedliche Lehren auf mit einem okkulten Charakter, der letztlich auch in esoterische Bewegungen mündete. Die Grundproblematik hier ist die Abhängigkeit der Schüler von einer Lehre, die selber nicht zugänglich erscheint.
Im Osten hingegen wirkte sich die Neuzeit mit ihren medial bahnbrechenden Kommunikationsmitteln dahingehend aus, dass eine Zentralisierung und Anonymisierung Einzug hielt. Nicht länger die lokalen Heiligen und Gelehrten standen im Brennpunkt des Schülers, sondern die Meister, die medial die höchste Präsenz erreichten.
Diese Welle erfasst auch nicht wenige westliche Suchende und führte zu Massen-Verehrungs-Kulten von wahren Meistern, aber auch selbsternannten Erleuchteten. Die ehrwürdige Bezeichung ‚Guru‘ entwickelte sich in diesem Kontext immer mehr, zum Teil auch gerechtfertigterweise, zu einem Schimpfwort.
Probleme spiritueller Entmächtigung durch selbsternannte Meister
Die Entwicklungen in der neueren Zeit führten sowohl im Osten wie auch im Westen zu mehr Abhängigkeiten, zu einer zunehmenden Entmächtigung der Suchenden. Der Druck auf die moralische Integrität eines Lehrers stieg dadurch mächtig und, wir wissen es, nicht alle hielten diesem Druck stand. Die Notwendigkeit, als Suchende oder Suchender Vernunftkriterien anzusetzen an spirituelle Führer ist in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen. Auch Yoga-Wiki veröffentlicht dazu wichtige Prüfkriterien (>siehe hier).
Es scheint so, dass mit dem spirituellen Wachstum die Gratwanderung auf dem schmalen Pfad des Gesunden immer schwieriger wird und die Herausforderungen des Egos immer grösser werden. Letztlich ist die menschliche Reife zentral. So betonte etwa Rudolf Steiner mit seinen Nebenübungen eine Ich-Stärkung.
Menschliche Reifung und die vier Geburten
Der deutsch Psychiater Michael Depner hat mit seinen vier Geburten die menschliche Reifung schlüssig beschrieben.
- Körperliche Geburt: Die körperliche Geburt ist dann vollzogen, wenn der Mensch für seine physischen Bedürfnisse selber sorgen kann.
- Psychologische Geburt: Das Entwickeln eines Selbstbildes, das zwischen Ich und Nicht-Ich unterscheiden kann. Das bedeutet einen Standpunkt einzunehmen, ihn als relativ zu erkennen und sich in andere mit unterschiedlichen Sichtweisen hineinversetzen zu können.
- Die soziale Geburt: „Die soziale Geburt ist vollzogen, wenn man andere nicht mehr als Werkzeuge zur Erfüllung eigener Bedürfnisse sieht. Dazu gehört, dass man die Verantwortung für das eigene Erleben vollständig übernimmt.“ (M. Deppner)
- Spirituelle Geburt: In der spirituellen Geburt löst sich die Identifikation unseres Ichs mit dem Ego (dem Teil, der als Anwalt unserer Bedürfnisse wirkt) auf.
Nach Depner vollziehen sich die Geburten als vierstufiger Prozess, wobei die Phasen aufeinander aufbauen. Es wird dabei deutlich, dass vom Suchenden zunächst im seelischen Bereich Reifungsprozesse anstehen, bevor eine Selbstverwirklichung stattfinden sollte.
Spirituelle Wege der Zukunft
Der Integrale Philosoph Ken Wilber fasste die Herausforderungen der Persönlichkeitsentfaltung treffend zusammen in die Aspekte:
- Clean up (Aufräumen)
- Wake up (Aufwachen)
- Grow up (Aufwachsen)
- Show up (In Erscheinung treten)
Neben meditativen bewusstseinserweiternden Übungen kommt aus meiner Sicht in unserer Kultur dem Aufräumen eine sehr wichtige Bedeutung zu. Es geht darum, unsere seelischen Verletzungen zu verarbeiten und dabei abgespaltene Energien körperlich und seelisch zu integrieren. Hier ergänzen sich östliche Wege der spirituellen Praxis mit westlichen psychotherapeutischen Verfahren.
Der Weg der Zukunft beinhaltet idealerweise nicht nur spirituelle Lehrer und therapeutische Wegbegleiter, sondern eine transparente Methode, die Selbstreflexion und Entfaltung durch eine gezielte Schattenarbeit ermöglicht. Die Lebensmatrix und das Integrale Tiefen Coaching ITC verstehen sich als Grundlage eines gesunden, ganzheitlichen persönlichen Wachstums und einer ausgewogenen Reifung (>siehe auch Fachartikel zum Thema). Diese Methode erlaubt es auch, frühe Prägungen und Bindungstraumata zu integrieren und einen Master-Plan des eigenen Lebens zu entschlüsseln. Mehr dazu in unseren Kursen und Ausbildungen.