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Sind Hochsensbile (verdeckte) Narzissten?

Ein selbstkritischer Bericht über ein hochaktuelles Thema

Man hört aktuell viel von Narzissmus. Meist berichten Opfer dabei von emotionaler Ausbeutung in toxischen Beziehungen. In den Geschichten, die erzählt werden, spielen die Narzissten dabei meist den Bösewicht. Man selbst ist gemäss Narrativ das Opfer. Dieses Muster zeigt sich gerade auch in der hochsensiblen Szene.

In diesem Artikel wage ich einen anderen, einen holistisch-phänomenologischen Blick auf das Thema. Dabei komme ich zum Teil zu neuen und wichtigen Schlüssen: Es ist für mich durchaus plausibel, dass es hochsensible Narzissten gibt und die Phänomene Narzissmus und Hochsensibilität sogar eng miteinander verbunden sind.

Hochsensiblen eilt oft ein schlechter Ruf voraus

Ich weiss nicht wie es dir geht. Natürlich finden wir Hochsensible oder Hochsensitive unser Thema interessant. Aber gegen aussen hin ist der Ruf von Hochsensiblen meist wenig berauschend. So begannen einige Gesprächspartner beim Thema Hochsensibilität kürzlich wiederum verärgert mit den Augen zu rollen… Diese Reaktion hat mich nachdenklich gemacht: Ich habe mich gefragt, ob diese negative Reaktion tatsächlich mit Hochsensitivität zusammenhängt oder nur damit, wie wir damit umgehen? Zunächst sollten wir aber den Begriff Narzissmus etwas unter die Lupe nehmen.

Was ist ein Narzisst, eine Narzisstin?

Wir alle kennen ihn, den griechischen Mythos von Narziss, der die Liebe anderer verweigerte und sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte. In der Psychiatrie wird die narzisstische Persönlichkeitsstörung als krankhafte Anerkennungssucht, Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und Mangel an Empathie beschrieben. In der Alltagspsychologie und umgangssprachlich meinen wir mit Narzissmus nicht nur Vollnarzissten. Vielmehr sind damit auch Menschen mit einer narzisstischen Tendenz gemeint. Menschen, die die beschriebenen Merkmale aufweisen, ohne aber als psychisch krank zu gelten.

Der Begriff des Narzissmus hat sich in den letzten Jahren zunehmend erweitert. So spricht man heute einerseits von einem grandiosen Narzissten (männlich aktive Form). Ich finde hier auch den Begriff egozentrischer Narzissten passend. Andererseits gäbe es auch einen verdeckten oder minderwertig-depressiven Typen (weiblich passive Form). Hier könnte man auch von einem allozentrischem Narzissten sprechen. Oft fänden diese sich ergänzenden Typen in narzisstischen Liebesbeziehungen denn auch zueinander.

Vielleicht ist unsere aktuell Gesellschaft sogar der natürliche Nährboden für Narzisstinnen und Narzissten: Fleiss, Leistung und Cleverness ist gefragt. Und das können sie, die Narzissten. Kein Wunder trifft man sie überall an: In der Wirtschaft als Leader, Im Netz als Meinungsbilder, im Sport als Helden und nicht zuletzt auch in der Politik als Drahtzieher und Führungsfiguren. Doch, woher kommen eigentlich Narzisstinnen und Narzissten? Denn eines ist klar: So geboren ist von ihnen keiner!

Wie man ein Narzisst oder eine Narzisstin wird

Psychologische Erklärungsmodelle gehen davon aus, dass Narzissten als Kinder entweder übermässig degradiert oder übermässig vergöttert wurden. Wir können und sollten an dieser Stelle aber weiter gehen, um die tiefe Verletzung eines Menschen mit narzisstischen Tendenzen verstehen zu können. Narzissmus ist im Wesentlichen eine Traumafolgestörung. Dabei sprechen wir nicht von Schocktraumata, sondern von Entwicklungstraumata. Es geht also nicht darum, was mir passiert ist, sondern was mir nicht passiert ist und ich als kleines Kind an elementaren Bedürfnissen hatte: Zuwendung, Bindungsbedürfnisse, die Welt und die Beziehung zu Erwachsenen als sicheren Ort zu erfahren… Dieser zugegebenermassen weit gefasste Trauma-Begriff ist für das Verständnis von Narzissmus aus meiner Sicht sehr wichtig. Er verändert in dieser Zeit gerade unser Verständnis von Krankheit und Gesundheit. So beschreibt die Trauma-Expertin Dami Charf in einem Aritkel zum Thema „Entwicklungstrauma und Narzissmus„, dass 80% der Menschen eigentlich traumatisiert sind! Die Trauma-Folgen sind sehr verschiedenartig. Doch jenseits der bio-psycho-sozialen Symptome geht es nach Charf um folgendes: „Trauma ist das Gegenteil von Verbundenheit und Lebendigkeit. Trauma trennt uns von uns selbst, anderen und der Erde, auf der wir leben.“ Der Bestseller-Autor Gabor Maté bringt das eindrücklich auf den Punkt:

Gabor Maté zum Thema Trauma als Störung der Beziehung zu sich selbst.

Trauma-Verständnis als Schlüssel zur Selbstheilung

Das Trauma-Verständis ist für den Menschen der Neuzeit aus meiner Sicht eine fundamental wichtige Botschaft jenseits von Polarisierungen von Gut und Böse. Die Herausforderung: Du bist zutiefst verletzt. Die Heilsbotschaft: Du kannst dich selber heilen.

Schauen wir uns diese Kernbotschaft genauer an: Die Bindungstheorie oder Bindungspsychologie hat zum Verständnis des Entwicklungstraumas wichtige Vorarbeit geleistet. Wer als Kleinkind eine sichere Bindung erlebt hat, entwickelt später auch eine sichere Bindung in sich. Man fühlt sich dann verbunden mit sich und ist authentisch (nach Gabor Maté). Ein heranwachsendes gut gebundenes Kind entwickelt denn auch eine gesunde Egozentrik und lernt Beziehungen zu sich und der Welt gesund zu regulieren.

Schlecht gebundene Kinder, die keine stabile Elternschaft erlebt haben, entwickeln sich so, dass sie verunsichert sind, weniger gut oder kaum mehr spüren, was sie wirklich brauchen und wie sie sich ihre authentischen gesunden Bedürfnisse befriedigen können.

Schlecht angebundene Kinder sind auch als erwachsene Menschen noch unsicher und können sich schlecht regulieren. Sie geraten deshalb oft in eine Opfer oder Täter-Rolle.

Bindung als Grundlage einer gesunden Selbstregulation

Die Bindung an sich und an die äussere Welt ist letztlich die Grundlage einer gelingenden Selbstregulationsfähigkeit.

Schauen wir einer wütenden, erniedrigenden Mutter ins Gesicht, fühlen wir uns verunsichert, schwach. Wenn wir einer liebenden Mutter entgegenblicken, fühlen wir uns unterstützt und sicher. Selbstverlorenheit führt zu einer schlechten Emotions-Kontrolle mit erhöhter Aggressivität und Verletzlichkeit. Eine gute Selbstanbindung ist die Grundlage von Resilienz und emotionaler Stabilität.

Sind Hochsensible verdeckte Narzissten?

Das Thema Hochsensiblität, Hochsensitivität oder Neurosensitivität und Narzissmus ist nicht neu. Es wurde schon vor einigen Jahren von Sandra Quedenbaum und Oliver Domröse diskutiert (Youtube-Beitrag). In Darstellungen von Sylvia Harke und vielen anderen ist der hochsensible Mensch meist Opfer von Narzisstinnen oder Narzissten. Der Hochsensible aber ist kein Narzisst.

Michael Kleist ist der Ansicht, das Hochsensible nicht narzisstich veranlagt sein können. Hochsensitive seien sehr empathisch, währenddessen narzisstisch Veranlagte das eben nicht sind (Youtube-Beitrag). Diese Ansicht vertrete ich nicht. Ich halte sie sogar als gefährlich. Das Argument von Kleist ist fürs erste plausibel, aber zu schematisch. Narzisstische Menschen haben durchaus sehr intensive Gefühle und auch eine emotionale Intelligenz. Ohne sie könnten sie ihre toxische Beziehungs-Masche gar nicht aufziehen können. In der narzisstischen Beziehungsstruktur findet sich sehr wohl eine Empathie und Fähigkeit, mitzuschwingen. Zudem ist Empathie keine statische Grösse: Es gibt Situationen, wo sie mir leichter fällt oder ich sie grad gar nicht erst brauche, sie mir vielleicht sogar im Weg ist.

Nur eines können Narzissten nicht…

Nur, was Narzisstinnen und Narzissten eben nicht können und in der Liebesbeziehung schmerzlich fehlt, ist lieben. Denn die Liebe baut auf Selbstliebe auf. Nur wer sich selber liebt, kann auch andere lieben. Die wahre Liebe setzt aber eine sicher Bindung zu sich und der Welt voraus. Sie unterscheidet sich deshalb fundamental von einer unsicheren Selbstverliebtheit und Geltungssucht der Narzistinnen und Narzissten.

Gerade jene, die sich gerne als Opfer von Narzissten bezeichnen, machen sich aus meiner Sicht verdächtig, in sich Teile eines verdeckten oder allozentrischen Narzissten zu haben. Ohnehin glaube ich, dass wir alle narzisstische Teile in uns haben. Ich habe in den letzten Wochen sehr viel gelernt dabei, diese Teile in mir zu ergründen. Es täte eben gerade jenen gut, die mit dem Finger auf andere zeigen, diesen zugegebenermassen zunächst wenig erfreulichen Weg zu gehen.

Das Wesen des hochsensitiven Menschen im Spiegel des Werte und Entwicklungsquadrates

Bevor wir uns der Thematik der narzisstischen Projektion zuwenden erscheint es mir wichtig, das Wesen des hochsensitiven Menschen aus einer holistischen Sicht näher zu verstehen. Dazu möchte ich das Werte- und Entwicklungsquadrat zu Hilfe nehmen. Es ist in Modell, dass bereits von Aristoteles verwendet wurde und für die Psychologie von Nicolai Hartmann ausgearbeitet wurde.

Jede Tugend hat gemäss diesem Ansatz eine Schwesterntugend. Beide, die Tugend und die Schwesterntugend, haben aber auch negative Aspekte. Diese Auslegeordnung finde ich für das Thema der Charakterstärken generell, aber auch für das Thema Hochsensibilität sehr relevant (siehe dazu auch Ausführungen zur Methodik des Integralen Tiefen Coachings). Hier also eine bildliche Darstellung des Werte- und Entwicklungsquadrates für Hochsensitive:

Den Hochsensitiven würde ich als selbstoffenen Charaktertypus beschreiben. Seine Herausforderung (positive Integration) ist es in gewissen Situationen Zugriff zu haben zu Selbstbewusstsein und einer gesunden Egozentrik. Der selbstoffene Typus läuft aber, wenn er nicht achtsam mit sich umgeht, Gefahr, in eine Dekompensation zu verfallen und dabei die Opferrolle zu übernehmen. Zudem besteht auch die Gefahr einer Kompensation, indem er zum Täter wird und in gewissen Situationen übermässig aggressiv und verletzend werden kann.

Sowohl die schwache Rolle als Opfer wie auch die Täter-Rolle haben erschreckende Ähnlichkeit mit dem psychologischen Muster des allozentrischen oder verdeckten Narzissten (Opfer) und dem grandiosen oder egozentrischen Narzissten (Täter)! Beide Rollen setzen eine ungenügende Selbstanbindung voraus.

Vom hochsensiblen Projektor zum hochsensitiven Introspektor

Wir wissen es: Es gibt nicht nur den hochsensiblen Menschen, es gibt verschiedene Typen. der Hochsensitivitäts-Forscher Michael Plüss etwa unterscheidet vulnerable Hochsensible (anfällige Hochsensible, die die Schattenseiten der Sensitivität erleben) und vantage Hochsensible (die vor allem die Sonnenseite der Sensitivität leben). Diese Unterscheidung halte ich für sehr wichtig, denn es macht deutlich, dass nicht die Sensitivität das Problem ist, sondern unser aktiver Umgang damit (die Informations-Verarbeitung). Wir können und müssen vielleicht auch als hochsensibler Mensch unsere Resilienz stärken.

Ich halte es an dieser Stelle aber für sehr bedeutsam, eine weitere Unterscheidung von hochsensitiven Menschen zu wagen, da es sich zeigt, dass viele Menschen gar nicht erst bereit sind, an sich zu arbeiten. Diese Offenheit ist aber die Grundlage jeglicher innerer Entwicklung und Resilienzförderung. Ich würde hier vom hochsensiblen Projektor sprechen, der bei Schwierigkeiten immer auf andere zeigt, nur nicht selber Verantwortung übernehmen mag. Dieses egozentrische Narzissmusmuster begegnet mir bei Hochsensiblen nicht selten.

Hochsensitive Entwicklungs-Chancen und Ausblick

Die Frage ist dann natürlich, welches positive Entwicklungsmuster dem Projektor gegenüber steht. Ich habe hier auch schon vom hochsensiblen Pilger gesprochen, einem Menschen, der bereit ist, den Weg auf sich zu nehmen, an sich zu arbeiten, sich weiterzuentwickeln, sich in Bewegung zu setzen und Verantwortung für sich und die Mitwelt zu übernehmen. Etwas nüchterner könnten wir hier auch vom hochsensitiven Introspektor sprechen (siehe auch den Blogartikel ‚Die Entschlüsselung der Hochsensibiltiät, Ansätze eienr radikalen Umdeutung‚). Es ist ein Mensch, der bereit ist, den Blick nach innen, selbst in die tiefsten Abgründe zu wenden und gegen aussen demütig und bescheiden auftritt (was immer ein Zeichen innerer Reife ist). Letztlich ist es auch ein Mensch, der bereit ist, einen spirituellen Weg zu gehen (siehe auch den Blogartikel ‚Hochsensibilität, Spiritualität und Traumaheilung‚).

Wer nicht nur mehr wissen, sondern auch mehr erfahren und begreifen möchte zum Thema sei verwiesen auf die Kursreihe der Jahresgruppe, den Modulen des Teils 2, der vertikalen Typen des Lebensmatrix-Typenmodelles. Wir gehen dabei auf das Thema Geburt und frühe Kindheit und Traumaheilung ein sowie auf drei spezifische Narzissmus-Typen (Jahresgruppe Lebensmatrix).