
„Was ich fordere, ist eine Gesellschaft von Bürgern, die zugeben, dass sie bedürftig und verletzlich sind.“ Martha C. Nussbaum
Nachbeelterung oder Neubeelterung (Reparenting) sind das Tor zur Heilung von Bindungstraumata (Entwicklungstraumata) und dem verletzten inneren Kind (siehe auch Blogartikel zum Thema ‚innerer Vater‘). Verletzungen des inneren Kindes sind eine wesentliche Ursache von psychischen und stressbedingten psychosomatischen und chronischen Erkrankungen (Gabor Maté).
Die Wucht der Verletzung in der symbiotischen Phase des Kindseins
Es ist eine allgemein unbestrittene Erkenntnis in der Psychologie, dass gerade frühe Traumata oder Verletzungen tiefere Spuren in der Seele hinterlassen. Dies kann man relativ einfach erklären: Ein gefestigtes Ich kann auch Schutzmechanismen aktivieren und sich gegen unliebsame Einflüsse zur Wehr setzen. Das Baby oder Kleinkind hingegen ist symbiotisch verbunden mit der Mitwelt und befürsorgenden Erwachsenen. Es ist auf Gedeih und Verderb angewiesen und abhängig. Misslichen Einflüssen ist es demnach schutzlos ausgeliefert. An folgendem Beispiel können wir das leicht erklären:
Nehmen wir an, ein Vater ist im Auto mit seinem kleinen Schützling unterwegs. Sein Auto gerät ins schlingern und er fährt auf einen Baum zu. Unwillkürlich erkennt der Erwachsene die herannahende Gefahr und ergreift Schutzmassnahmen, zum Beispiel durch eine erhöhte Muskelspannung. Das Baby ist der Gefahr hingegen nicht bewusst und schutzlos ausgeliefert. Dadurch wird es ungleich härter getroffen. Ebenso verhält es sich auch mit subtileren psychisch oder sozial schädlichen Einflüssen.
Verletzungen im Kindesalter bleiben oft in uns haften und beeinflussen unser Denken und Verhalten.
Wie wir damit umgehen, nicht das Ereignis an sich ist entscheidend
Frühkindliche Verletzung können leicht eine Ohnmachtsposition verstärken. Wir fühlen uns dann als Opfer unserer eigenen biografischen Erlebnisse. Ein Gegenentwurf dieser Opferhaltung ist der befreiende Aphorismus, der unter anderem Milton H. Erikson zugeschrieben wird: „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit“. Darauf spielt auch Gabor Maté an, wenn er erklärt, dass bei Traumata nicht das Ereignis selber entscheidend ist, sondern unsere Reaktion darauf.

Unsere eigene Biografie ist bei genauer Betrachtung eine Konstruktion. Wir kennen es: Wir erzählen eine Begebenheit aus der Kindheit unseren Geschwistern und sind erstaunt, dass sie die Szene ganz anders erlebt haben. Oder noch krasser: Wir erinnern uns an eine Begebenheit, die eine Wirkung hinterlassen hat. Zehn Jahre später empfinden wir die Sache ganz anders, weil wir sie vielleicht unter einem anderen Gesichtspunkt betrachten.
Regeln brechen: Meist ein Prozess
Es ist mehr als verständlich, dass wir etwa auf Vernachlässigung so reagieren, dass wir uns selbst vernachlässigen. Das kenne ich selber gut, ich kenne es auch von meinen KlientInnen. Aber, es muss eben nicht so sein! Letztlich haben wir in uns eine unermessliche Macht, auf Dinge unterschiedlich zu reagieren und festgefahrene Reiz-Reaktionsmuster zu durchbrechen. Wie haben die Macht, unser inneres Kind zu heilen.
Aufgrund neurobiologischer Bahnungen im Gehirn ist aber dieses Umlernen kein Selbstläufer. Es braucht zunächst die Erkenntnis über bestehende unbewusste Mechanismen. Es ist eben nicht selbstverständlich (auch wenn es von aussen oft so erscheint), dass wir selber unsere Muster erkennen, zum Beispiel eben die Selbstvernachlässigung.
Ein anderes ist es, mit den Prägungen, die unser Verhalten und Sein zu bestimmen scheinen, zu brechen. Meist ist dies ein Prozess…
Die Heilung des inneren Kindes durch Selbstbeelterung klappt nicht immer
Die Bewusstwerdung der eigenen Prägungen und unbewussten Muster ist der Anfang dieses inneren Weges. Wenn wir unsere verletzen Seiten, unser verletztes inneres Kind aus dem Erwachsenen-Ich heraus begegnen können, geschieht Heilung. Ich kann dann aus einer mütterlichen Haltung heraus das innere Kind umarmen, es trösten, ihm gut zureden. Oder aus einer beschützenden väterlichen Energie heraus kann ich das innere Kind beschützen, ermutigen und Gefahren wegweisen. Dieses Nachnähren von verletzten Teilen kann tiefgreifende und nachhaltige Veränderungen auslösen.
Was aber, wenn ich selber aufgrund der Vernachlässigung zu diesen inneren Teilen, dem inneren Vater oder der inneren Mutter, keinen Zugang habe? Was, wenn ich selber durch die Hilflosigkeit meiner primären Bezugspersonen, meiner Mutter und meinem Vater, selber ihre nicht erfüllte Rolle übernommen habe oder es zumindest versuche (Parentifizierung)? Meist ist es ja eher ein So-Tun, als ob ich die Rolle übernehmen könnte. Letztlich steht dahinter aber eine masslose Überforderung für das Kind.
Vater-Erfahrung: Da hängt noch etwas
Das erinnert mich an eine Klienten-Geschichte, nennen wir den Betreffenden Jörg. Jörg erlebte wiederkehrende Depressionen und Erschöpfungen. Bei der Arbeit im Informatik-Bereich konnte er sich des Öfteren nicht durchsezten, nicht Nein sagen, überforderte sich meist und scheiterte dabei an seinen eigenen Massstäben.
In der Anamnese erzählte Jörg von einer schwierigen Vater-Beziehung . Der Vater sei eine gescheiterte und verrohte Existenz. Seine Unzufriedenheit und sein Nörgeln prägten Jörg, der immer mehr an Selbstwert verlor.

In einer Therapie habe es in Form von einem virtuellen Brief eine Art Versöhnung gegeben, da sei er durch. Als ich den Brief las, konnte ich den guten Willen, den inneren Konflikt zu lösen und seinem Vater zu vergeben, spüren. Sein Schlusssatz: „Ich verzeihe dir, was du mir angetan hast. Ich erwarte nichts mehr. Ich wünsche dir, dass du deinen Frieden findest.“
Beim Lesen bekam ich ein mulmiges Gefühl und den Eindruck, dass dies eher Wunschdenken ist, eine Kopfgeburt, wie sie in Therapien, die nicht wirklich an die Wurzel gehen, leider oft der Fall ist. Ich sprach meine Bedenken an. Zu meinem Erstaunen stimmte mir Jörg unmittelbar zu: „Du hast recht, da hängt noch etwas“
Die Emotionen hinken dem Kopf oft hinterher
Jörg erzählte mir von seinen subjektiv paradiesischen ersten Jahren. Dann kam der Bruch: Die Geburt seines schwer behinderten Bruders, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog, die Eltern komplett überforderte. Jörg stand auf einmal alleine da. Wir beschlossen diese biografischen Phasen musikalisch nachzustellen, so dass Jörg nochmals spüren konnte, was emotional auf einer tieferen Ebene wirklich läuft. Wir suchten zwei Musikstücke aus, eines für die erste paradiesische Periode, ein zweites für die Phase des Vertrieben-Seins aus dem Paradies.
Beim ersten Musikstück konnte Jörg schwelgen in den sanften Tönen und dem ruhigen Rhythmus. Das zweite Stück war rebellisch, punkig, es schwang Wut mit. Jörg konnte sich erstaunlich gut mitbewegen und in die stark extravertierte Energie eintauchen. Ich wies dann Jörg an, diesen Tanz und diese Energie vor seinem Vater zu zeigen. Da geschah etwas erstaunliches. Wie auf Knopfdruck erstarrte Jörg. Er war wie gefangen in einem inneren Käfig. „Nein, das geht nicht“, meinte er.
Die Geschichte zeigt, wie oft die Emotionen rationalen Erkenntnisprozessen hinterherhinken.
Was wir wirklich brauchen
Ich bin überzeugt, dass Gesprächtherapien das Problem von Jörg nicht lösen können. Es geht um eine Tiefen-Veränderung. Für Jörg heisst es, seine Wut zu zeigen, seine eigene Macht zu erfahren und zu ergreifen. Erst, wenn er das geschafft hat, kann er sich selber bevatern und beeltern, sich nachnähren. Dies ist ein Prozess, bei dem ein Koregulator als Begleiter (Coach) sehr hilfreich sein kann (Koregulation in der Therapie). Nachbeelterung kann auch durch einen Therapeuten oder Coach angeleitet werden, der als gutes Beispiel (am besten bei sich selber!) vorausgeht. In meiner Praxis als Kursleiter und Erwachsenenbildner ist es in meinen Workshops der Prozessarbeit mit Kleingruppen immer spürbarer geworden, dass eine Atmosphäre der sozialen Koregualtion entsteht (social Reparenting, vgl. Pete Walker). Diese tragende Stimmung ist zum Beispiel in der Jahresgruppe Lebensmatrix spürbar und weit wichtiger als Lerninhalte. Diese tragende Stimmung brauchen wir für die Heilung, vielleicht wir alle.
Literatur:
Gabor Maté und Daniel Maté: Vom Mythos des Normalen, Wie unsere Gesellschaft uns krank macht und traumatsiert – Neue Wege zur Heilung, 2023
Pete Walker: Posttraumatische Belastungsstörung, Vom Überleben zu neuem Leben, Ein praktischer Ratgeber zur Überwindung von Kindheitstrauma, 2019