Hochsensibilität, Traumaheilung und Spiritualität. Drei Begriffe, die bei näherem Hinschauen mehr miteinander zu tun haben, als man denkt. In diesem Blogartikel erörtert der Coach, Trainer und Ausbildner Martin Bertsch die tieferen Zusammenhänge rund um diese Themen. Dabei nimmt er Bezug auf neuere Forschungen und wegweisende Erkenntnisse.
Revival der Bewusstseinserweiterung
Mit der 68er Bewegung traten in einer industriell verkrusteten Wohlstandsgesellschaft ganz neue Werte auf. Sexuelle Freizügigkeit, Persönlichkeitsentwicklung und eine Erweiterung von religiösen Sichtweisen und Praktiken brachen sich bahn. Sie bereiteten im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts den Boden für einen wachsenden Markt an New Age- und Esoterik-Angeboten. Der Nährboden für eine neue Spiritualität war gelegt.
Auch in der Psychologie fand parallel zu diesen gesellschaftlichen Entwicklungen eine Abwendung von technischen Vorstellungen statt. Der Mensch wurde nicht länger als Maschine angesehen. Ein Trend hin zu Menschlichkeit, Beziehung, Empathie und Ressourcenorientierung setzte ein. In der humanistischen und später noch deutlicher in der transpersonalen Psychologie rückten Spiritualität und Transzendenz in den Fokus der Aufmerksamkeit. Doch im Schatten dieser Umwälzungen verbreitete sich auch zunehmend die Suchtproblematik und Drogenkonsum.
Bewusstseinserweiterung erlebt heute ein Revival. Etwa Schamanismus, Astral-Reisen, Aura-und Akasha Reading sind en vogue. Selbst psychedelische Therapien etwa mit LSD finden immer mehr Anhänger. Kritisch ist aus meiner Sicht, dass diese Entwicklung als erweitere Form von Selbstoptimierung verstanden werden kann. In diesem Kontext ist etwa auch das Microdosing von LSD zur Leistungssteigerung im Silicon Valley zu verstehen.
Bewusstseinsentwicklung: Spiritualität braucht eine gefestigte Persönlichkeit
Im Zusammenhang mit Bewusstseinserweiterung ist ein Blick auf die Bewusstseinsentwicklungsstufen hilfreich. Aus der Vogelperspektive lassen sich Megatrends und langfristige Entwicklungen erst erkennen. Die Bewusstseinsentwicklung vollzieht sich nach Jean Gebser stufenförmig: von archaisch, magisch, mythisch, rational bis hin zu integral. Im Zuge dieser Entwicklung findet eine Festigung der Persönlichkeit statt (Persönlichkeitsentwicklung). Zudem ist es ein Weg der Entfaltung der Vielfalt. In der zweiten Phase findet eine spirituelle Entwicklung hin zur Einheit und Transzendenz statt. Eine spirituelle Entwicklung in die Transzendenz braucht demnach als Fundament eine gefestigte Persönlichkeit.
Gesunde Spiritualität und die Prä/Trans-Verwechslung
Auf der Grundlage der Bewusstseinsentwicklungsstufen geht aus meiner Sicht eine wichtige Kritik von Ken Wilber bezüglich der Prä/Trans-Verwechslung hervor. Ken Wilber warnte davor, eine prärationale, (archaisch magische) Spiritualität mit einer reifen transrationalen Spiritualität zu verwechseln (>siehe hier). Das Wiederaufleben magischer Riten entspricht demnach einer Regression und nicht einer wahren Ich-Transzendenz, entspricht einem Rückschritt und keinem Fortschritt.
Genau aus diesem Blickwinkel betrachtet können wir sagen, dass es eine gesunde transrationale Spiritualität gibt, die uns mit der Transzendenz und dem Allsein verbindet. Eben diese Transzendenz führt uns zu einem tiefen Erleben des inneren Friedens und Glücks, einem Bewusstsein, das im Hier und Jetzt verankert ist. Aber es gibt auch eine Spiritualität, die verführerisch ist. Sie führt zu einem wattierten Scheinfrieden. Letztlich ist dieser Scheinfrieden eine Regression oder Kompensation. Wir machen uns lediglich vor, dass wir glücklich sind… Willkommen in der Welt des Spiritual Bypassing (spirituelle Umgehung).
Spirituelles umgehen (Spiritual Bypassing) und spiritueller Narzissmus
Der Begriff Spiritual Bypassing wurde vom Psychologen John Welwood im Jahr 1984 geprägt. Gemeint ist damit, dass spirituelle Praktiken und Überzeugungen genutzt werden, um sich schmerzhaften Gefühlen oder tiefen Wunden nicht stellen zu müssen. Dabei werden Gefühle erfolgreich verdrängt und diese Verdrängung auch legitimiert (siehe auch hier).
Die Bestrebung, seine Schattenseiten zu unterdrücken, wird im Laufe der Bewusstseinsentwicklung immer schwieriger. Letztlich mündet sie nicht selten in einer Form des Egozentrismus, dem spirituellen Narzissmus (Scott Barry Kaufmann). In psychologischen Studien wurde gezeigt, dass spirituelle Praxis in vielen Fällen nicht zu einer Auflösung des Egos führen, sondern zu einem Ego-Boosting (Jochen Gebauer, vgl. hier). Ein Phänomen, von dem gerade Heiler, die Energiearbeit praktizierten, betroffen sind.
Weise wie der indische Philosoph Sri Aurobindo warnen denn auch, als spirituell Suchender ein „wachsames Auge auf die Maskerade des Egos und die Hinterhalte dunkler Mächte (zu) haben, die sich selbst als einzige Quelle von Licht und Wahrheit inszenieren und dessen göttlichen Schein nutzen, um sich der Seele des Suchenden zu bemächtigen.“ Kein Wunder, dass für Sri Aurobindo die psychologische Schattenarbeit ein wichtiges Thema war (siehe Fachartikel Integrales Tiefen Coaching).
Schattenarbeit, Integrale Spiritualität und Psychologie
Die Integrale Persönlichkeitsentwicklung und Schattenarbeit setzt genau an diesem Punkt an. Spirituelles Wachstum baut auf einer gesunden und ausgeglichenen Persönlichkeitsentfaltung auf. So geht es darum, in unserer Seele zunächst aufzuräumen und alte Wunden und Verletzungen zu transformieren, die uns an einer wirklichen Transzendenz und wahren Spiritualität hindern.
Einer, der die Zusammenhänge von Bindungstrauma, Sucht und Krankheit erforscht hat und tiefgreifende Zusammenhänge aus seiner Praxis als Arzt erkannt hat, ist der Kanadier Gabor Maté. Der Film ‚Die Weisheit des Traumas‘ (‚The wisdom of Trauma‘) zeigt die fundamentale Wichtigkeit, jenseits von Verletzung uns selbst zu sein. Diese Authentizität ist dann auch Grundlage einer gesunden Beziehungsfähigkeit (vergleiche auch Ehrliches Mitteilen von Gopal Norbert Klein).
Wahres persönliches Wachstum besteht im Annehmen des Schmerzes: Nur so kann Wachstum und Heilung geschehen. Nur so kann letztlich auch erst spirituelles Wachstum geschehen.
Dissoziation: Ausbruch aus dem Körper, aber wie?
Die Folge von traumatischen Ereignissen kann als Dissoziation beschrieben werden (dissoziative Identitätsstörung). Das überwältigende Erleben einer Bedrohung führt dazu, dass der Schmerz verdrängt wird und der Hilflose erstarrt. Wenn man mit Körpertherapeuten über dieses Phänomen spricht, beschreiben diese meist, dass sich bei diesem Erlebnis die Energie auf der vertikalen Körperebene nach oben verschiebt.
Parallel zu diesem Erlebnis spricht man im Osten bei spirituellen Erleuchtungs-Erlebnissen vom Aufsteigen der Kundalini. Denn die Kundalini-Energie sitzt nach uraltem hindusitischem Glauben im Beckenboden. Erst bei einem spirituellen Erwachen steigt sie in einem vertikalen Kanal nach oben zum Scheitel hin. Auch diese existenzielle spirituelle Erfahrung des Eins-Seins und der Selbst-Erkenntnis seines wahren göttlichen Wesens führt zu einer Dissoziation. Doch wird hier nicht von Angst und Schrecken berichtet, sondern von einem orgasmischen Glücksgefühl. Die Erleuchtungs-Erfahrung wird übereinstimmend aber auch als Desidentifikation (Dissoziation) mit dem eigenen Körper beschrieben. Haben spirituelles Erleben und Trauma-Erfahrungen etwa auch Gemeinsamkeiten?
Posttraumatic Growth und Hochsensibilität
Tadeschi und Calhoun haben in ihren psychologischen Studien ein Phänomen erforscht, auf das schon Viktor Frankl hingewiesen hat: das posttraumatische Wachstum (posttraumatic growth). Sie konnten nachweisen, dass ein Traumaerleben unterschiedlich verarbeitet wird: Viele Menschen erholen sich nach der Krise wieder und erreichen ein Niveau der Lebensqualität wie vor dem Trauma-Erlebnis (b). Andere entwicklen eine posttraumatische Belastungsstörung und eine psychische Beeinträchtigung (c). Resiliente Menschen werden vom Trauma-Ereignis relativ schwach betroffen (a). Das Phänomen des posttraumatischen Wachstums zeigt sich in der Kurve d: Betroffene erfahren hier einen Zuwachs an innerer Reife und einen tiefer empfundenen Lebenssinn. Unter anderem werde auch ein gesteigertes, intensiviertes spirituelles Bewusstsein erfahren wird.
Wir können annehmen, dass hochsensitive Menschen, die über ein hohes spirituelles Potenzial verfügen, dazu neigen, das Schock-Erlebnis tiefer zu empfinden als andere. Hochsensible haben aber durch ihre hohe Introspektionsfähigkeit und Vorstellungskraft auch ausgeprägte Selbstheilungs-Ressourcen. Gerade auch Hochsensible können durch Trauma-Erfahrungen eine positive Entwicklungsbeschleunigung zu erleben. Nur, selten wird auch ihnen diese in den Schoss fallen. Vielmehr braucht es auch hier die richtigen Methoden und eine tragende Beziehungen. Hochsensible dürften in diesem Sinne zwar nicht unmittelbar eine starke primäre Resilienz aufweisen, aber eine gut entwickelte „sekundäre Resilienz“ und ein Potenzial zu posttraumatischem Wachstum.
Integrale Traumaheilung und ITC (Integrales Tiefen Coaching)
Hochsensible können besonders von spezifischen Trauma-Heilungs-Methoden profitieren. Denn genau diese Zielgruppe empfindet posttraumatischen Schmerz intensiver. Aus diesem Grund ist eine Trauma-Kompetenz und der Umgang mit transformativen Methoden besonders wichtig: Nicht zuletzt auch für ein spirituelles Wachstum.
In den letzten Jahrzehnten haben sich eine Vielzahl von Trauma-therapeutischen Ansätzen und Methoden bewährt:
Somatic Experiencing (SE): Somatic Experiencing ist eine sehr verbreitete Methoden von Peter A. Levine.
Neuroaffektive Beziehungsmodell NARM: Aus dem SE-Ansatz leitet sich auch das Neuroaffektive BeziehungsmodelL NARM von Laurence Heller ab. Diese Methode fokussiert besonders auf Bindungs-Trauma.
EMDR (Eye Movement Disensitization and Reprocessing): Francine Shapiro entdeckte Zusammenhänge von raschen Augenbewegungen und emotionaler Verarbeitung von Traumata.
Ehrliches Mitteilen EM: Ein sozialer und beziehungsoreintierter Ansatz ist das Ehrliche Mitteilen EM von Gopal Norbert Klein.
Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT): Luise Reddemann hat im Bereich der tiefenpsychologischen Kurzzeittherapie die PITT-Methode entwickelt. Eine Methode, die eine hohe Verbreitung gefunden besonders im stationären Bereich gefunden hat.
Daneben bieten verschiedene Methoden wie Tre (Trauma Realeasing Exercises) oder Traumasensibles Yoga Übungen an, die von Betroffenen selber angewendet werden können und Erleichterung bringen.
Traumaheilung und Hochsensibilität
Aus meiner Sicht eignen sich für hochsensible Menschen vor allem Trauma-transformative Ansätze, die einerseits den Körper und andererseits die Ebene der Spiritualität miteinbeziehen. Ein neuer Ansatz genau in diesem Bereich ist das Integrale Tiefen Coaching. Dieser Integrale Ansatz bietet im Coaching-Setting insbesondere im Bereich von Bindungstraumata Unterstützung. Einerseits durch Körper-Achtsamkeit (Flowing Presence, Focusing) und andererseits durch hypnosystemische Ansätze der imaginativen Aufstellungsarbeit mit der Lebensmatrix. Diese Methode kann in Coachings oder in Kursen in Kleingruppen angewendet werden. Der Ansatz des Integralen Tiefen Coachings bietet eine wirkungsvolle Verbindung von Hochsensibilität, Traumaheilung und Spiritualität.