Man hört nicht viel von ihnen. In einer lauten Welt sind sie in den letzten Jahren mehr und mehr in in den Hintergrund getreten: die Introvertierten. Schade eigentlich für das Potential, das Introvertierte haben. In ihrem Bestseller rückt Susan Cain die Introvertierten ins Zentrum. Ein Artikel der Spiegel-Autorin Kerstin Kullmanngeht dem Phänomen der Introvertierten nach.
Auszüge aus einem Spiegel Artikel von Kerstin Kullmann.
Die Kraft der Stillen
Die Welt gehört den Lauten, Extrovertierte haben es leichter im Leben. Schon Kinder werden auf Selbstdarstellung getrimmt. Ein Irrweg, sagen Psychologen und Ökonomen. Sie raten: Nutzt das Potential der Leisen. (…)
Der Idealmensch unserer Zeit ist gesellig, risikofreudig, ein Alphatier. Er arbeitet gut im Team, ist gern unter Leuten, hat ein großes gesellschaftliches Netzwerk. Momente der Stille nutzt er, um zu twittern. Hauptsache, nicht allein sein. Aber es gibt viele, die anders sind. Sie halten nicht gern Reden, wirken ungelenk im Smalltalk. Netzwerken ist ihnen ein Gräuel. Momente der Stille brauchen sie, um sich vom allgegenwärtigen Lärm zu erholen. Hauptsache, allein sein.
Eltern machen sich Sorgen, wenn sie den Eindruck haben, dass der eigene Nachwuchs zu wenig lautstark und durchsetzungsfähig ist. Wer in sich gekehrt ist, ruhebedürftig oder gar scheu, der wird es, so fürchten sie, schwer haben im Leben. Und das stimmt wahrscheinlich sogar. Bereits 1994 bewies der Psychologe Howard Giles, dass man Menschen, die schnell und laut sprechen, als kompetenter und sympathischer wahrnimmt, als klüger, besser aussehend und interessanter. Mit so jemandem wären die meisten Menschen gern befreundet. Wer im Internet einen Partner sucht, hat bessere Karten, wenn er sich als schlagfertig, witzig, kontaktfreudig und unternehmungslustig beschreibt.
Vor allem in der Welt der Wirtschaft gilt Lautsein als Voraussetzung für Erfolg. 2002 wies der amerikanische Psychologe Timothy Judge in einer großen Studie nach, dass bei Menschen, die dem extrovertierten Ideal entsprechen, die Wahrscheinlichkeit, eine Führungsposition zu erreichen, höher ist als bei anderen. Ein paar Jahre später fand der Forscher heraus, dass ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein in Jugendjahren zu größerem Wohlstand im Erwachsenenalter führt. In Casting-Shows wie Dieter Bohlens „Deutschland sucht den Superstar“ können Jugendliche sich abgucken, wie die Arbeit am eigenen Selbst aussehen könnte. Wie man sich präsentiert, eine große Show um sich macht.
Dabei sind introvertierte Menschen nicht automatisch schüchterne Menschen. Wer schüchtern ist, hat Angst, vor seinen Mitmenschen zu scheitern, zu versagen. Introvertierte haben nicht unbedingt Angst zu scheitern. Sie ertragen soziale Kontakte nur in kleineren Dosierungen. Die Gesellschaft anderer ermüdet sie schneller, sie sehnen sich häufiger nach Ruhe.1921 schrieb Carl Gustav Jung erstmals über die „Introversion“. Der Psychoanalytiker erklärte sie als Hinwendung der psychischen Energie nach innen, weg von der Außenwelt. Introvertierte Menschen nimmt man als ruhig, zurückhaltend, in sich gekehrt wahr – extrovertierte dagegen als gesellig, abenteuerlustig, risikofreudig. Bis heute gelten die beiden Temperamente als wichtigste Aspekte der Persönlichkeitspsychologie.
Jeder Mensch trägt introvertierte und extrovertierte Züge in sich, doch die meisten tendieren in eine Richtung. Weil sie in unserer Gesellschaft so viel mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen, glaubt man, die Extrovertierten wären in der Mehrheit. Tatsächlich schätzen Wissenschaftler, dass ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung zu den Introvertierten gehört. „Man müsste jedem Menschen einen Persönlichkeitstest in die Hand drücken“, sagt Fritz Ostendorf, Psychologe an der Universität Bielefeld. Spricht man lieber, oder hört man lieber zu? Langweilt man sich schnell, oder bleibt man länger bei der Sache? Das sind Fragen, die Introvertierte anders beantworten würden als Extrovertierte (siehe Test Seite 106). Fest stehe, so Ostendorf, dass beide Temperamente weitervererbt würden und dass diese Persönlichkeitsmerkmale im Laufe eines Lebens relativ stabil blieben. Wer ruhig sei, könne auch mal aus sich herausgehen, und umgekehrt, sagt der Psychologe. Aber im Kern bleibe man derselbe Mensch. In der Evolution muss es für den Homo sapiens also von Vorteil gewesen sein, dass es zwei unterschiedliche Temperamente gibt.
Die amerikanische Autorin Susan Cain hat ein Buch über die schweigende Hälfte geschrieben und damit einen Nerv getroffen. „Still. Die Bedeutung von Introvertierten in einer lauten Welt“ ist in den USA zum Bestseller geworden. „Wenn wir davon ausgehen, dass stille und laute Menschen in etwa dieselbe Anzahl an guten oder schlechten Ideen haben“, schreibt Cain, „dann sollte der Gedanke, dass nur die lauteren und energischeren Menschen sich durchsetzen, uns besorgt aufhorchen lassen.“
Werden die Stillen zu häufig überhört? Führt diese Ignoranz dazu, dass viele schlechte Ideen siegen, während viele gute Ideen untergehen? Ist es an der Zeit, genauer hinzuhören?
Susan Cain hat in Harvard Jura studiert, als Anwältin arbeitete sie an der Wall Street. Es scheint so gar nicht zu ihrer Karriere zu passen, und doch sagt sie von sich, sie sei eine typische Introvertierte. „Am liebsten bin ich mit der Familie daheim und sitze auf dem Sofa“, sagt Cain. Aber schon als kleines Mädchen habe man ihr eingebläut, sich nicht der Natur ihres stillen Temperaments zu fügen. Im Ferienlager scheuchte die Betreuerin sie herum: „Ihr Kinder müsst wild sein!“ Später, im Job, ging Cain mit ihren Kollegen in laute Bars, obwohl sie sich lieber mit einer Freundin zum Essen verabredet hätte.
In ihrer Kanzlei war sie ausgerechnet Spezialistin für Verhandlungsführung. „Irgendwann habe ich all diese Entscheidungen, für die ich mich immer wieder überwinden musste, nur noch reflexhaft getroffen“, sagt Cain. Es ging ihr nicht gut dabei. Sie hat gekündigt und ihr Buch geschrieben. „Uns wird eingeredet, dass Menschen von Bedeutung eine forsche Art haben müssen, dass Glück mit Kontaktfreudigkeit einhergeht“, sagt Cain. „Doch wir begehen einen großen Fehler, wenn wir das Ideal der Extraversion so einfach übernehmen.“
Dabei befindet man sich als Introvertierter in bester Gesellschaft: Der Physiker Albert Einstein, der Schriftsteller Marcel Proust, der Microsoft-Gründer Bill Gates, der Regisseur Steven Spielberg – sie alle gelten als stille, zurückhaltende Menschen.
1955 setzte die Afroamerikanerin Rosa Parks sich in einen Bus in Montgomery, Alabama. Als man sie aufforderte, einem Weißen Platz zu machen, weigerte sie sich. Parks wurde festgenommen. Wenig später stand sie als Ikone der Bürgerrechtsbewegung neben Martin Luther King Jr. in einer Kirche in Montgomery. 5000 Menschen hörten zu. King hielt eine flammende Rede, Parks sagte nichts. Ihre bloße Anwesenheit elektrisierte die Zuhörer. Es war Parks‘ leiser, unbeirrbarer Widerstand, der die Menschen ebenso bewegte wie die brillante Rhetorik Kings.
Tatsächlich aber hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein großer kultureller Vorbehalt gegen die Leisen entwickelt. Vor allem in der Wirtschaft wird das Ideal des extrovertierten Menschen gefördert. Die New Yorker Anwältin Cain hat das selbst erlebt. „Sorgfalt, Analyse, Konzentration – das sind die Stärken der Stillen“, sagt sie. „Warum geben wir ihnen trotzdem immer wieder das Gefühl, nicht gut genug zu sein?“
Eine Bildungsstätte, in der Stille es besonders schwer haben, ist die Harvard Business School. Unter ihren Absolventen finden sich die einflussreichsten Wirtschaftslenker der Welt. Chefs von Goldman Sachs, Hewlett Packard, Procter & Gamble oder General Electric haben hier studiert. Was diese Menschen für eine erfolgreiche Unternehmenskultur halten, bestimmt das Leben Hunderttausender Angestellter. Die Absolventen dieser Fakultät werden darauf trainiert, zu schnellen, risikofreudigen und lautstarken Führungspersönlichkeiten zu reifen.
Das zeigt sich auch in Übungen wie „Überleben in der Subpolarregion“. Dabei müssen die Studenten diskutieren, mit Hilfe welcher Utensilien sie in Arktisnähe über die Runden kommen. Gezeigt werden soll, dass das Team besser abschneidet als ein Einzelner aus der Gruppe. Gemeinsam nachdenken heißt aber auch, dass man zuhören können muss.Ein Student, der Erfahrung mit Reisen in den hohen Norden hatte, wurde in einer solchen Runde einmal schlicht ignoriert. Er hatte seine Vorschläge nicht laut genug vorgetragen. Seine Erfahrung aber wäre lebensrettend gewesen. Hinterher waren die Teilnehmer peinlich berührt. „Der Zusammenhang zwischen der besten Rede und dem besten Vorschlag“, sagt Susan Cain, „ist gleich null.“
1948 erschien in den USA das Buch „Your Creative Power“ von Alex Osborn. Der Philosophiedozent war Partner der amerikanischen Werbeagentur BBDO, das Buch machte ihn weltberühmt. Er erklärte darin, wie man aus einer Gruppe von Mitarbeitern die größtmögliche Anzahl an Ideen gewinnt: ein Raum, viele Menschen, kreative Freiheit, keine Kritik. Je mehr Vorschläge, desto besser. Zum Schluss, so die Hoffnung, würde sich in dem Berg an Ideen schon ein Geniestreich finden. Das Prinzip des Brainstorming war geboren.So einleuchtend das klingt, es klappt nicht. „Seit 50 Jahren belegt die psychologische Forschung, dass Brainstorming in großen Gruppen nicht gut funktioniert“, bestätigt der Sozialpsychologe Wolfgang Stroebe von der Universität Utrecht. „Die Effektivität der Gruppenarbeit ist eine Illusion.“
Stroebe hat in einer Untersuchung gezeigt, wie Brainstorming zu Produktivitätsverlusten in Unternehmen führt. „Gruppen generieren im Brainstorming insgesamt weniger und auch weniger erfolgreiche Ideen, als würden sich die Teilnehmer allein Gedanken machen. „Ein Problem besteht darin, dass man in Gruppen eher aus einem Pool an konventionellen Ideen schöpft. Meist werden nur die immer gleichen, langweiligen Vorschläge gemacht. „Die Gedanken anderer können stimulierend sein“, sagt Stroebe. Bei zu vielen Teilnehmern aber gehe dieser Effekt verloren.
„Man kann seine Idee nicht sofort äußern“, erläutert Stroebe. „Bis man an der Reihe ist, muss man sich darauf konzentrieren, nichts zu vergessen.“ Solche und andere Zwänge bremsen das, was vom Brainstorming eigentlich erhofft wird: die spontane Kreativität. Vor ein paar Jahren ließ der US-Sportartikelhersteller Reebok in Canton, Massachusetts, einen neuen Firmensitz errichten. Die Unternehmenschefs planten, große, offene Büroflächen für die Designer zu bauen. Das wäre, so die Überlegung, der Kreativität sicher förderlich. Die Firmenleitung beschloss, ihre Angestellten zu fragen. Das Ergebnis: Am meisten wünschten sich die Designer ein eigenes Zimmer, um in Ruhe arbeiten und sich besser konzentrieren zu können. Mehr nicht.
Zu einem ähnlichen Befund kam der amerikanische Psychologe Anders Ericsson bei Experimenten, die er mit Musikstudenten der Berliner Universität der Künste durchführte. Ericsson bat deren Professoren, ihre Geigenschüler in drei Leistungsgruppen einzuteilen: die künftigen Solisten, die Orchestergeiger und die späteren Geigenlehrer. Der Psychologe bat die Studenten, ein Übungstagebuch zu führen. Am Ende stellte sich heraus: Die Studenten beschäftigten sich im Schnitt mehr als 50 Stunden in der Woche mit Musik. Doch auffällig war: Die besseren von ihnen übten häufiger allein und seltener in der Gruppe.
Inzwischen hat Ericsson ähnliche Ergebnisse auch für andere kreative Berufe gefunden. „Wer allein arbeitet, verbessert seine Leistung am stärksten“, lautet sein Fazit. Ericsson nennt das gezieltes Lernen in der Feedback-Schleife: üben, sich selbst prüfen, besser werden. „Das Temperament der Introvertierten“, sagt er, „befähigt sie in einem höheren Maße dazu, die eigene Leistung zu verbessern.“
Es ist noch nicht lange her, da bewunderte das Volk den belesenen, ruhigen Menschen. Arthur Schopenhauer formulierte das 1851 in seinen „Kleinen philosophischen Schriften“ so: „Dem intellektuell hochstehenden Menschen gewährt nämlich die Einsamkeit einen zweifachen Vortheil: erstlich den, mit sich selber zu seyn, und zweitens den, nicht mit Anderen zu seyn.“
Über den amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln sagte Ralph Waldo Emerson 1865 in einer Trauerrede: „Auf den ersten Blick hatte er keine schillernden Qualitäten. Er schüchterte niemanden durch seine Überlegenheit ein.“ Lincoln gilt bis heute vielen Amerikanern als der Inbegriff des Mannes von persönlicher Größe, von starkem Charakter. Doch der Präsident, der die Sklaverei abschaffte, war kein lauter Mensch. Der Kulturhistoriker Warren Susman hat untersucht, wie sich die amerikanische Gesellschaft im Laufe des 20. Jahrhunderts von einer „Charakterkultur“ in eine „Persönlichkeitskultur“ verwandelte. „Die gesellschaftliche Rolle, die jedem in der neuen Persönlichkeitskultur abverlangt wurde“, so Susman, „war die eines Darstellers. Jeder Amerikaner sollte sich selber darstellen können.“
Treibende Kraft war das mit der Industrialisierung verbundene Wachsen der Städte. Während die Menschen im Dorf und in der Kleinstadt meist auf bekannte Gesichter trafen, waren sie in den Metropolen von Fremden umgeben. Sie mussten sich immer wieder neu vorstellen und erklären. „Bei den zunehmend anonymen geschäftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen der Zeit konnte alles Mögliche – einschließlich des ersten Eindrucks – die entscheidende Rolle spielen“, so der Historiker Roland Marchand. Die Amerikaner, und wie sie viele andere Bürger westlicher Industrienationen, reagierten auf die Anonymität der Städte, indem sie sich bemühten, gute Verkäufer ihrer selbst zu werden und über die eigenen Erfolge zu reden. Es begann der Siegeszug der Extrovertierten.
Inzwischen sind die Lauten und die Stillen zum Gegenstand der Forschung geworden. Unterschiede zwischen Introvertierten und Extrovertierten zeigen sich schon in der Hirnphysiologie. So haben Psychologen die Hirnströme von Menschen analysiert, die sich zuvor Persönlichkeitstests unterzogen hatten. Im Gehirn vieler introvertiert eingestufter Probanden wurde dabei eine höhere elektrische Aktivität nachgewiesen, egal ob sie arbeiteten oder sich ausruhten. Introvertierte, so die Entdeckung, sind häufig auch dann neuronal stimuliert, wenn sie keine Reize von außen empfangen. Wegen dieser von Natur aus höheren Gehirnaktivität haben die Stillen offenbar ein stärkeres Bedürfnis, sich gegen Reizüberflutung abzuschirmen.
Diese Forschung geht vor allem auf Erkenntnisse des Psychologen Jerome Kagan zurück. An der Harvard University führte er eine Reihe von Experimenten an rund 500 Säuglingen im Alter von vier Monaten durch. Er konfrontierte die Babys mit zerplatzenden Luftballons, bunten Mobiles oder mit Alkohol betupften Wattestäbchen. 20 Prozent der Säuglinge reagierten besonders empfindlich auf die für sie neuen, ungewohnten Situationen. Sie weinten, ruderten mit Ärmchen und Beinchen, drückten angespannt den Rücken durch. 40 Prozent reagierten gelassen, der Rest der Babys bewegte sich zwischen diesen beiden Extremen.
Als der Psychologe seine Probanden nach etlichen Jahren wieder ins Labor bat und mit ihnen Tests absolvierte, machte er eine auffällige Entdeckung: Wer als Kind heftig auf Reize reagiert hatte, war als Erwachsener ein eher introvertierter Charakter. Um sich wohl zu fühlen, um neue Kraft zu schöpfen, brauchen Introvertierte Ruhe. Bei Extrovertierten ist es genau umgekehrt: Um einen optimalen neuronalen Erregungszustand zu erreichen, brauchen sie Anregungen von außen, Musik, Gespräche, Bewegung. „Das Ausmaß an Reizen, die Extrovertierte als angenehm empfinden, kann Introvertierte überwältigen“, erläutert der Psychologieprofessor Colin DeYoung von der University of Minnesota. Experimente an Studenten haben gezeigt: Introvertierte lernten am besten in ruhiger Umgebung (maximal 65 Dezibel); Extrovertierte konnten sich besser konzentrieren, wenn es lauter ist (um die 85 Dezibel).
Die Wirklichkeit läuft indes nicht unter Laborbedingungen ab. In ihrem Arbeitsalltag können die wenigsten Angestellten einfach die Tür hinter sich zuziehen, wenn ihnen danach ist. Fast jeder hat Chefs, Kollegen und Kunden, mit denen er umgehen muss. Und die Zusammenarbeit zwischen Lauten und Leisen gestaltet sich häufig schwierig.Bonn, ein neonbeleuchteter Tagungsraum: In der Mitte eines Stuhlkreises sitzen Alex und Stefan vom Verein „Toastmasters“. Dessen Mitglieder helfen sich gegenseitig, ihr öffentliches Auftreten zu verbessern, sie üben Reden und Debattieren. Heute will ihnen die Karriereberaterin Sylvia Löhken zeigen, wie unterschiedlich introvertierte und extrovertierte Menschen miteinander verhandeln.
Löhken hat Ankreuztests verteilt, um zu ermitteln, wer zu welchem Temperament gehört. Das Ergebnis: sechs zu sechs, zwei gleich starke Gruppen. In einem Spiel soll der „Extro“ Stefan den „Intro“ Alex dazu überreden, dass der Debattierclub einer fiktiven Firma bei Vorträgen hilft. Alex könnte Stefan schnell klarmachen, dass der Verein keine Geschäftsaufträge annehmen darf. Aber er kommt nicht zu Wort. Stefan erzählt ihm, wie schön das Wetter sei, wie gern er ihn habe und wie toll er den Club finde. Alex hebt an, etwas zu sagen. Doch Stefan ist in seinem Redefluss nicht zu bremsen. Fünf Minuten geht das so. „Stopp“, ruft Löhken, „die Zeit ist um!“ „Wie fandet ihr das?“, fragt Löhken in die Runde. Die Intros sagen: „Stefan ist nicht zum Punkt gekommen.“ Die Extros kontern: „Alex war nicht Herr der Lage.“„Typischer“, sagt Löhken, „hätte das Experiment nicht laufen können.“
Die blonde Frau mit der weichen, ruhigen Stimme arbeitet als selbständige Beraterin. In diesem Jahr hat sie ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Leise Menschen – starke Wirkung“. Unter ihren Kunden sind viele Menschen, die sich aus der leisen Welt der Wissenschaft in die laute Wirtschaft begeben und nicht wissen, wie ihnen geschieht. Löhken versucht, die beiden Welten zusammenzubringen. Beide Seiten könnten davon profitieren.
2007 brach erst der amerikanische Immobilienmarkt zusammen, dann gerieten weltweit Finanzinstitute und Großbanken ins Straucheln. In dieser Zeit hätten sich viele gewünscht, dass nicht die Schnellsten, Lautesten, Risikobereitesten die Richtung vorgegeben hätten, sondern die Vorsichtigen; jene, die einen kühlen Blick auf die Finanzen werfen. Und darin sind Introvertierte wahrscheinlich besser. 2009 fand Camelia Kuhnen, Professorin an der Kellogg School of Management der Northwestern University, heraus, dass sich viel von der Bereitschaft, riskante Finanzinvestitionen zu tätigen, auf unser angeborenes Temperament zurückführen lässt. Probanden, die eine mit der Introversion verknüpfte Genvariante besaßen, zeigten sich in Experimenten zu 28 Prozent weniger bereit, riskante Geldanlagen zu tätigen. Die Introvertierten achteten mehr auf ihr Geld.
Dass das Ideal der Extroversion schlecht fürs Geschäft sein kann, hat kürzlich auch Adam Grant nachgewiesen. Grant ist Professor für Management an der Wharton School of Business der University of Pennsylvania, einer der einflussreichsten Fakultäten für Wirtschaftswissenschaften der Welt. Insbesondere Unternehmen, die viel Eigeninitiative von ihren Angestellten verlangten, arbeiteten profitabler, so Grant, wenn sie von introvertierten Chefs geführt würden. Seine Studien stellen das Idealbild des lautstarken, bestimmenden Bosses auf den Kopf.
„Diese Art von Chefs neigt zu stark dazu, die eigene Person in den Mittelpunkt zu stellen. Die Vorschläge der Mitarbeiter kommen seltener zum Zuge“, kritisiert Grant. Früher habe das noch funktioniert. Doch die Geschäftswelt sei schneller, unübersichtlicher geworden. Was der Markt verlange, könne kaum noch ein Chef im Alleingang vorausahnen. So schlage die Stunde der stillen Anführer. Derer, die zuhören können. Mitte der siebziger Jahre wandte sich der Ingenieur Steve Wozniak, nach eigenem Bekunden ein ausgemachter Eigenbrötler, an seinen Freund Steve Jobs. Er präsentierte ihm den ersten Computer für den Hausgebrauch. Der geniale Verkäufer Steve Jobs erkannte die Kraft dieser Idee und überredete Wozniak, die Firma Apple Computer Company zu gründen, um diese Heimcomputer im großen Stil unter die Leute zu bringen.
Wenn sich Introvertierte wie Wozniak und Extrovertierte wie Jobs zusammentun, das ist die Lehre aus der Erfolgsgeschichte von Apple, können sie Großes leisten. Laut und leise, das passt gut zusammen. In Joachim Borgis‘ Firma wird auf beide Temperamente Rücksicht genommen. Borgis, 44, ist Mitinhaber einer Unternehmensberatung für IT-Firmen. Corporate Quality aus Siegburg hat rund hundert Angestellte. Er sagt, ihm sei schon als Kind klar gewesen, dass er eher zu den Ruhigen gehöre. Er las gern Bücher, bastelte mit Fischertechnik. Borgis hat Wirtschaftsinformatik studiert, später als Unternehmensberater gearbeitet. Wiederholt hat er die Unterschiede zwischen sich und seinen Kollegen beobachtet: „Schnell zu einem Kundentermin aufbrechen, sich im Taxi noch die notwendigen Informationen besorgen, das kann ich nicht.“ Borgis muss immer gut vorbereitet sein, nur dann fühlt er sich sicher.
Auch in Borgis‘ Unternehmen gibt es Konferenzen, in denen sich die Lauten präsentieren. Doch für die Leisen stehen die Türen der Chefs stets offen. Nicht zu den Selbstdarstellern zu gehören wird niemandem angekreidet. Klassische Brainstorming-Meetings sind verpönt. Stattdessen werden, wenn es etwas Wichtiges zu entscheiden gibt, im Besprechungsraum Karteikarten verteilt, auf denen die Teilnehmer ihre Vorschläge notieren. Dann wird eingesammelt und über die Ideen geredet. So kommen auch diejenigen zu Wort, die sich in solchen Runden sonst nicht hervortun.
Vorträge auf Konferenzen, das Verteidigen der eigenen Idee, das könne einem aber keine Karteikarte abnehmen. Borgis legt Wert darauf, dass seine Mitarbeiter für ihre Vorschläge einstehen. „Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Es hat sich immer gelohnt, die eigene Scheu zu überwinden, wenn man von einer Sache überzeugt ist.“ Das ist ein Satz, der auch für die deutsche Bundeskanzlerin gilt. Politik, sollte man meinen, ist das Feld, auf dem die Introvertierten nun wirklich nichts verloren haben; denn Politik ist vor allem Kommunikation, ist das Bearbeiten und Überzeugen von Menschen durch Worte, ist die ständige Beobachtung durch Kameras und Wähler.
Aber dann gab es im Jahr 2009 einen Wahlkampf, in dem sich zwei Menschen gegenüberstanden, die nicht laut sind, die sich nicht aufdrängen, die nicht in einen Glücksrausch fallen, wenn sie Hände schütteln und Kinder herzen sollen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) führten den wohl ruhigsten und friedlichsten Wahlkampf aller Zeiten in der Bundesrepublik. Aber dass sie da standen, hieß, dass sie sich in ihren Parteien durchgesetzt hatten, dass die deutsche Politik von zwei Leisetretern angeführt wurde. Merkel ist noch immer Bundeskanzlerin, Steinmeier Oppositionsführer im Bundestag.
Angela Merkel ist nichts unangenehmer als ein Mann, der sie durch Worte und Gesten bedrängt. Ihre Berater sind eher ruhige, weiche Typen, sie macht Politik aus der Stille. Sie hört zu, sie wartet, sie prescht nicht vor mit einer eigenen Meinung, sondern lauert meist auf den Moment, in dem sie erkennen kann, welche Position sich durchsetzen wird. Das ist dann die ihre. So kann sie eigentlich nur siegen. Merkel hat sich aber auch gegen ein Testosteron-überladenes Alphatier wie Nicolas Sarkozy behauptet. Sie überließ ihm den großen Auftritt, womit sein Konkurrenzeifer besänftigt war. Sie ließ ihn gockeln und dirigierte ihn dabei freundlich dorthin, wo sie ihn haben wollte. Die deutsche Härte in der europäischen Finanzpolitik ist nur möglich, weil sie so wenig auftrumpfend daherkommt, weil Angela Merkel nicht auch als Menschentyp Europa gegen sich aufbringt.
Selbst nach sieben Jahren Kanzlerschaft merkt man ihr noch an, dass sie eine gewisse Scheu im Umgang mit fremden Menschen hat, vor allem mit größeren Gruppen. Sie ist besser geworden mit den Jahren, hat ein bisschen Extrovertiertheit gelernt, aber ihre Gesten sind eckig geblieben, ihr Lächeln verrutscht noch immer regelmäßig, und eine emotionale Ansprache gelingt ihr fast nie. Gleichwohl ist sie beliebt, die meisten Menschen reagieren freudig, wenn Angela Merkel irgendwo auftaucht. Sie finden sie mindestens putzig, meistens menschlich. Introvertiertheit, das sieht man an der Kanzlerin, kann also selbst in der Politik ein Erfolgsrezept sein.
Literatur:
Susan Cain: „Still. Die Bedeutung von Introvertierten in einer lauten Welt“. Riemann Verlag, München; 448 Seiten; 19,95 Euro.
Sylvia Löhken: „Leise Menschen – starke Wirkung“. Gabal Verlag, Offenbach; 288 Seiten; 24,90 Euro.