Wissenschaftlich gesehen wären die wichtigsten Schulfächer Musik, Sport, Theater spielen, Kunst und Handarbeiten. – Manfred Spitzer
Der Beitrag der Neurowissenschaften zur Bildungsforschung ist Gegenstand sowohl fachlicher als auch politisch geprägter Diskussionen. Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer als Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm und Gründer des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL) steht im nachfolgenden Interview Rede und Antwort, das von Ulrike Saalfrank, Psychologin und Sachgebietsleiterin für Kindertagesstätten im Amt für Kinder, Jugendliche und Familien der Stadt Rosenheim am 02.04.2012 in Ulm geführt.
Siehe auch Fitz. Quelle >hier. Von Martin Bertsch sprachlich leicht überarbeitet.
Ulrike Saalfrank:
Einige Thesen, die wir nachgelesen haben, da hatten Sie gesagt, das Gehirn kann nicht anders als lernen, das macht ihm die allergrößte Freude, ausser man versetzt es ins Koma, macht ihm Angst oder setzt es unter zu starkem Druck. Muss also Lernen Spaß machen und ist das realistisch?
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer:
Ja, es ist sehr realistisch, dass Lernen Spass macht. Wer es nicht glaubt, der soll nur mal einem kleinen Baby zuschauen. Das hat noch Spass an allem was es lernt. Das krabbelt rum, ist neugierig, reißt die Augen auf. Wir hatten schlichtweg noch keine Zeit ihm den Spass abzugewöhnen. Und eigentlich ist das, was man eben lernen nennt, dass man eben der Welt zugewandt ist, und eben die Dinge auch selber probiert, erforscht. Das macht jeder Zweijährige und was dann im Gehirn hängen bleibt, das ist unglaublich viel. Wenn man jetzt unter lernen versteht, dass der eine dem anderem sagt: „Du, das ist jetzt so und so, lerne das mal!“, dann macht Lernen keinen Spass, aber so funktioniert Lernen eben auch nicht. Lernen funktioniert vor allem dadurch, dass man sich mit der Welt auseinandersetzt und so ganz viel über die Welt lernt.
Ulrike Saalfrank:
Ist das dann auch die optimale Art wie man am besten lernt?
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer:
Das ist die optimale Art. Gerade im Kindergarten und in den unteren Schulklassen lernt man durch Erforschen. Natürlich wird man angeleitet und lernt auch, die Dinge zu versprachlichen und dadurch hat man sie noch einmal ganz anders reflektiert.
Wichtig ist aber tatsächlich, dass man im Umgang mit der Welt, über die Welt am besten lernt. Also, das haben ja schon die alten Pädagogen gesagt: Lernt mit Herz, Hirn und Hand. Hirn ist klar. Herz, ja, die Emotionen spielen auch eine Rolle. Das haben wir heute auch sehr gut verstanden. Hand war oft noch so unklar. Aber selbst dazu gibt es heute sehr, sehr gute wissenschaftliche Untersuchungen, nicht zuletzt aus unserem Labor, die ganz klar zeigen, wenn ich etwas sozusagen mit den Händen begriffen habe. Daher kommt ja auch dieser Ausdruck, dann kann ich wirklich hinterher viel besser, sogar ganz abstrakt darüber nachdenken.
Einfach nur, dass ich es mit den Händen verarbeitet habe, denn diese Verarbeitung mit den Händen läuft hier ab und dafür braucht es etwa 1/3 unseres Gehirns und dieses 1/3 des Gehirns nutzen wir dann beim Denken mit und sonst eben nicht, wenn ich mir das nur passiv aneigne oder nur sprachlich und ohne die Hand.
Ulrike Saalfrank:
Und wie beurteilen Sie, dass in der Schule heutzutage doch dieser sinnliche und taktile Anteil so zu kurz kommt. Inwiefern schränkt uns das in unserer Lernfähigkeit ein auf Dauer?
Prof. Spitzer:
Es macht uns einfach ineffektiv und wenn wir dann einfach ineffektiv sind, dann passiert natürlich auch das, was passieren muss. Es macht keinen Spass mehr. Es ist unglaublich wichtig, zu sehen, dass das im Gehirn so verankert ist, nämlich dadurch, je mehr ich mit den Dingen tue, je mehr ich mich damit beschäftige, ja, mit den Händen verarbeite, desto tiefer erfolgt die Verarbeitung und desto mehr bleibt hängen. Dieses ist gedächtnispsychologisch seit Jahrzehnten gut erforscht und wenn ich dann sozusagen das alles weglasse und dann noch verlange, dass noch mehr gelernt werden soll, kann eigentlich nur chronischer Stress und Frust resultieren. Das ist genau das, was wir jetzt in den Schulen haben und leider auch schon in Kindergärten. Und das muss wirklich nicht sein.
Ulrike Saalfrank:
Wären wir denn als Gesellschaft heute an einer anderen Stelle, wenn wir diese Maxime mit Herz, Hirn und Hand zu lernen berücksichtigt hätten?
Prof. Spitzer:
Ja, ich glaube schon. Ich glaube, das intellektuelle Leistungsniveau wird ja oft beklagt. Es geht ein bisschen runter und wir sind nicht mehr so fit wie früher. Das ist sicherlich differenziert zu betrachten. In manchen Bereichen ist das so, in manchen nicht. Aber im Prinzip nehmen wir mal so an, wenn da etwas dran ist, dass es ein bisschen den Bach runter geht, dann liegt es sicherlich daran, dass wir diese Dinge nicht mehr so ernst nehmen, dass eben die Emotionen und die Hände zum Lernen dazu gehören. Der Kopf alleine, der still sitzt und Informationen aufnimmt, das ist einfach das falsche Bild vom Lernen.
Ulrike Saalfrank:
Ist denn jedes Gehirn, ist das Gehirn bei jedem Menschen gleich interessiert daran sich weiterzuentwickeln und dazu zu lernen?
Prof. Spitzer:
Es gibt sicherlich Unterschiede in den Fähigkeiten und auch in der Motivationslage. Die einen sind ein bisschen neugieriger, die anderen sind ein bisschen ängstlicher gegenüber Neuem. Das macht auch Sinn. Ich meine, wenn eine Situation, sozusagen sehr gefährlich ist, dann bin ich besser ein bisschen ängstlicher und wenn aber alles nicht so gefährlich ist, dann ist es gut, wenn ich sehr neugierig bin. Dann lerne ich mehr. Und es braucht eben die Ängstlichen, die schlimmstenfalls nicht so viel wissen, aber wenn es dann brenzlig wird, dann eher überleben als die, die immer draussen sind und vielleicht sich auch in Gefahr bringen. Deswegen gibt es diese Unterschiede. Die muss es geben. Aber ich glaube, von diesen Unterschieden mal abgesehen, dass wir Menschen uns heute im Grunde genommen zu stark einschränken in unseren Möglichkeiten und deswegen auch nicht so gut lernen wie wir das könnten.
Ulrike Saalfrank:
Und welche Rolle, würden Sie sagen, spielt denn Beziehung beim Lernen? Also Beziehung zwischen Mitschülern und dann auch Beziehung zwischen Lehrern und den Kindern?
Prof. Spitzer:
Ja, das ist das A und O. Das ist ganz einfach. Also, ohne menschliches Miteinander wird nicht wirklich gut gelernt. Man hat ja mal versucht alles nur per Computer zu erledigen. Wir wissen, dass das nicht funktioniert. E-Learning klappt nicht. Die Leute, die das machen, haben das zwar nie wirklich zugegeben, aber die sagen dir heute dann etwas besseres, die nennen das Blended-Learning, und to blend heißt mischen. Was wird denn da gemischt? Der Lehrer wird wieder beigemischt. Ich finde das keine schöne Formulierung, dass man den Lehrer wieder beimischt. Das ist so, wie wenn sie sagen, der Kuchen schmeckt ohne Mehl schlecht, dann mischen sie wieder ein bisschen Mehl bei. Mehl gehört nun mal in den Kuchen und das ist vielleicht sogar das Wichtigste, um zu sagen wir mischen das jetzt wieder ein bisschen bei, damit da etwas Ordentliches daraus wird. Das ist einfach nur falsch. Lernen fängt mit einer Beziehung an. Ich kenne da jemanden, der kann was – ich will das auch können. Ich möchte jemandem imponieren, ich will einfach weiterkommen und merke, der ist schon soweit, der kann es mir doch zeigen. Da gehört ganz viel dazu. Und wenn Sie jetzt fragen, wer ist es? Das kann im Prinzip jeder sein. Das kann ein Mitschüler sein, den ich beneide und dem ich nacheifere, der auch ein Händchen für mich hat. Ein guter Lehrer sollte es sein, der sollte auch diese sogenannte Beziehungskompetenz unbedingt haben. Man hört heute noch Erwachsene, die sagen, für den Mathematiklehrer, für den wäre ich durch das Feuer gegangen und deswegen war ich gut in Mathematik. Und genauso ist es eben. Und deswegen die Beziehung, die macht tatsächlich ganz, ganz viel. Ich kann das auch wissenschaftlich untermauern. Es gibt viele Studien, die wichtigste Variable beim Unterricht, was macht guten Unterricht aus, die wichtigste Variable heißt Lehrer.
Ulrike Saalfrank:
Inwiefern gehen diese Erkenntnisse, von denen Sie sprechen, einerseits jetzt diesen Beziehungsaspekt so zu betonen und auch das was sie vorhin sagten, mit Herz, Hirn und Hand zu lernen – inwiefern gehen diese Erkenntnisse tatsächlich bei uns in die Pädagogik mit ein?
Prof. Spitzer:
Ja, sie sollten mit eingehen und zu jeder Lehrerausbildung gehören natürlich auch Kenntnisse über diese Tatbestände. Wie gut sie tatsächlich nicht nur mal erwähnt werden, sondern eben auch durch spezielles Training geübt werden, da bin ich mir nicht so sicher, weil wir Deutschen sind gut im Reflektieren und Metareflektieren, aber dann einfach mal zu schauen, wie geht es denn und jetzt machen wir es doch einmal oder wir schauen mal, wie es geht und wenn wir es fünf Mal probiert haben, dann denken wir darüber nach, was wir noch besser machen könnten. Ich glaube, an solchen Dingen fehlt es noch ein bisschen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass da noch sehr viel Luft ist.
Ulrike Saalfrank:
Es wird ja möglicherweise noch Einfluss haben auf Personalschlüssel in Kindertagesstätten oder auf eine veränderte Lehrer- oder Erzieherinnenausbildung
Prof. Spitzer:
Gewiss. Ja. Beides.
Ulrike Saalfrank:
Unsere Entwicklung, jetzt in der Realität, wie sie im Moment abläuft, scheint ja doch tendenziell dahin zu gehen, dass wir immer mehr Informationen aufnehmen müssen, zum Beispiel diese überfüllten Lehrpläne, die von vielen Kindern und Eltern beklagt werden. Wie kann da unter diesen Bedingungen Lernen überhaupt noch gelingen?
Prof. Spitzer:
Ja, es ist schwierig. Also, der Lehrer sollte natürlich versuchen, genau genommen Lehrpläne nicht abzuarbeiten, weil das ist der Tod jeden guten Unterrichts, der, ich sage mal, Interesse getrieben, Neugier getrieben ist. Wenn ich sage, wir müssen heute Lehrplan-Nummer so und so viel abhacken, dann stöhnen ja schon alle. Das ist wirklich nicht das, was passieren sollte und ich kann einfach nur sagen, das ist sehr wichtig, dass ein guter Lehrer, trotz Lehrpläne einen guten Unterricht macht. Wenn die sozusagen als Richtschnur sagen, was im Prinzip dran kommen soll, aber die Ausführung wird im Wesentlichen dem Lehrer überlassen und wenn es gut läuft, dann läuft es eben genauso. Dann kann das funktionieren. Wenn man das wirklich so umsetzen will, dass alle zu jeder Zeit genau das gleiche tun im ganzen Land. Das kann überhaupt nicht funktionieren.
Ulrike Saalfrank:
Welche Auswirkungen hat der immer größer werdende Anteil an digitalem Konsum bei Kindern und Jugendlichen auf deren sozial-emotionale Entwicklung?
Prof. Manfred Spitzer
Die sind 6,9 Stunden online täglich, zwischen acht und zwölf. Es gibt andere Studien, da kam das gleiche raus. Man kann sagen, je mehr die online sind, desto weniger Bekanntschaften haben sie in der realen Welt. Und wenn man sie fragt, was macht euch glücklich? – die realen Bekanntschaften. Je mehr die Online sind, desto mehr Bekanntschaften haben sie in Facebook, von denen sie selber sagen, dass ihre Eltern nicht wollen, dass sie diese Bekanntschaften haben. Was braucht man eigentlich noch an Intelligenz, um klar zu machen, dass das nichts taugt? Dann wissen wir mittlerweile, da gab es eine Studie an Affen im letzten November. Es gibt ja Bereiche im Hirn, die für Soziales zuständig sind, und es ist interessant zu sehen, dass, wenn man diese Affen in Gruppen verschiedener Grösse hält und dann etwa 1,5 Jahre wartet, dann zeigt sich, je grösser die Gruppe, desto grösser ist auch das soziale Gehirn. Das heisst, es wächst mit der Aufgabe. Wir wissen ja heute, das Hirn wächst tatsächlich, wenn man es benutzt, so wie die Muskeln auch. Was ist aber, wenn man es nicht benutzt? Und wenn Sie viel Facebook-Bekannte haben, dann haben sie wenig Kontakt. Dann geht ihr soziales Gehirn noch vor die Hunde. Und wenn sie das alles als Erwachsener machen, dann macht das alles nichts. Aber wenn wir das unseren Kindern übertragen, was da raus kommt, ist ganz, ganz schlecht.
Ulrike Saalfrank:
Aber wie kann ich die soziale Kompetenz speziell fördern? Da gibt es nämlich kaum etwas. Das ist das nächste.
Prof. Manfred Spitzer:
Na, ich denke, das was Sie machen. Genau das. Die Leute, die Kinder brauchen wirkliche Kontakte. Alles wirklich. Die sollen nicht einfach nur so da sitzen.
Ulrike Saalfrank:
Aber die Geschichte ist doch, dass diese ganze Welle rollt und nicht aufzuhalten ist..
Prof. Manfred Spitzer:
Die muss man aufhalten.
Ulrike Saalfrank:
Ich glaube, man muss es um nützen. Aber so einen Drive aufzuhalten, das geht doch gar nicht.
Prof. Manfred Spitzer:
Natürlich. Wir halten ja auch auf, dass die Kinder zu dick werden, dass Cola ohne Zucker in sie rein geschüttet wird bis zum abwinken. Wir müssen. Ich sage einmal ein Beispiel. Man kann ausrechnen, dass die Fernsehwerbung, die wir an Kinder richten, uns im Jahr 20.000 Tote und 15 Milliarden Gesundheitskosten macht. Das kann man ausrechnen an vorhandenen Tatsachen, die publiziert sind. 20.000 Tote pro Jahr in der Zukunft, weil die zu dick werden. Und jetzt kann man einfach hergehen und sagen, wir verbieten Fernsehwerbung für Kinder. Die Schweden haben das schon. Für unsere Nahrung haben es die Südkoreaner und die Engländer sogar. Warum können wir das nicht?
Ulrike Saalfrank:
Früher war das ja auch schon mal, ich kann mich erinnern, da haben Kinder gar nicht in Werbung vorkommen dürfen. So in den 70er, 80er Jahren.
Prof. Manfred Spitzer:
Wir müssen, weil wir müssen. Wir leiden als Gesellschaft mit.
Ulrike Saalfrank:
Ich habe die Leitung bei unserem Projekt. Wenn wir gegen etwas gewesen wären, dann hätten wir nie dieses Projekt bekommen. Wir müssen irgendetwas finden, wo wir dafür sind.
Prof. Manfred Spitzer:
Das ist richtig. Ich sage ja auch nicht, dass man alles nur verbieten soll. Das soll man ja gar nicht. Das klappt nämlich nicht. Aber Alternativen anbieten. Wir haben hier etwas Besseres als Fernsehen und Medien. Fertig. Das ist der Witz. Die schlimmsten Sachen, finde ich, muss man verbieten. Also, es gibt keinen Grund, das nicht zu verbieten. Wir verbieten ja auch Kinderpornografie. Sogar im Internet. Ich würde sagen an der Spitze, Sie können im Internet nichts verbieten. Wir machen es doch. Ja, und mindestens weil wir sagen, das wollen wir nicht. Dann kann ich auch jemanden sagen: „He, das machst du nicht.“ Wenn wir die blutrünstigsten Spiele zulassen, dann kann auch die Mutter zu ihrem Jungen sagen: „Hör mal zu, du spielst das, wieso?“ „Das darf ich doch!“. Da sagen doch die Mütter mit Recht, da lässt mich der Staat doch im Stich.
Das ist jetzt nicht nur die Kinderpornografie. Da gehören ganz klare Grenzen, ganz klares moralisches Verständnis her und zusätzlich Alternativen, die mehr anregen und in Bewegung bringen, als es das Fernsehen tut. Und die Kinder: Es geht ja schon um die Zeiten, wenn man den Kindern Alternativen gibt, dann sind die nicht mehr online. Die sind lieber real miteinander als irgendwie online. Nur, wenn man so tut als hätte man gar nichts anderes mehr und es gibt ja genug Pädagogen, die sagen, was haben wir denn sonst noch, wir haben ja sonst nichts ausser der virtuellen Realität. Dann muss ich sagen, gute Nacht. Dann sind wir doch arm.
Als Beispiel könnte man Korea nennen. Da ist das Ausmass an Computer und Internetsucht viel höher als bei uns, mit etwa 12 Prozent der jungen Leute nach Angaben des dortigen Gesundheitsministeriums. So muss man ganz klar sagen, die Gefahr ist wirklich da und wir sollten Prophylaxe betreiben und die besteht nicht darin, dass man jetzt das schon im Kindergarten alles vor den Kindern ausbreitet, sondern dass man sagt, wir machen das nicht, und wenn dann die Kinder alt genug sind, dann können sie auch mit Informationstechnik umgehen, aber im Kindergarten sie schon mal anzufixen, dass ist wirklich eindeutig falsch.
Ulrike Saalfrank:
Was wir jetzt versuchen mit dem FitZ-Projekt zum Beispiel, dass wir ein stückweit versuchen, so Inseln eines anderen Umgangs zu schaffen. Wir verändern da wie gesagt, nicht die ganze Bildungslandschaft, aber wir versuchen wenigstens unser Möglichstes zu tun, und dieses FitZ ist ja ein Projekt, das Schulkindern und Kindergartenkindern ermöglichen soll, in allen fünf Begabungsformen ihre eigen spezifische Begabung zu entdecken. Selbstbestimmt und nicht fremdbestimmt, stärkenorientiert einfach. Könnten Sie uns eine kleine Einschätzung geben, in wie fern so eine Art, so ein Projekt wie das FitZ-Projekt, dazu beiträgt, unsere Bildungslandschaft, soweit als möglich in eine sinnhafte Richtung zu gestalten?
Prof. Manfred Spitzer:
Die Kanadier haben ein Sprichwort: „Wenn du ein Haus bauen willst, nimm ein Brett und nagle es wo hin“. Deswegen halte ich es für sehr sinnvoll, dass sie sagen, wir fangen mal an, machen Projekte, wir wollen jetzt nicht den Kindergarten von Grund auf revolutionieren nach einem großem Schema, sondern wir schauen, was geht, was geht in diesem und jenem Ort, wo sind die Leute, die das dann auch können. Der Ton macht immer die Musik, so dass man eben sagt, ja, wir versuchen Inseln zu schaffen und hoffen dann, dass die Inseln wachsen und um sich greifen und einfach ein Sog entsteht. Nicht mit Druck etwas reindrücken, sondern man zeigt es und dann sagt jeder: Oh, das ist ja interessant, das ist ja toll!“, und dann entsteht ein Sog. Wir wollen da mehr davon. Und dann geht es in die richtige Richtung. Und das läuft ja dadurch automatisch eben nicht mit Druck von aussen. Es läuft selbstbestimmt, also sie haben durch dieses Modell schon vieles, was sie theoretisch fordern und was auch sinnvoll ist, implementiert, in dem sie es eben nicht reindrücken, sondern anbieten und dann werden sie schon sehen, wie stark es angezogen wird.
Ulrike Saalfrank:
FitZ ist bis dato eine ergänzende Maßnahme. Kann FitZ Ihrer Meinung nach den Kindern helfen, den schulischen Anforderungen bisschen leichter gerecht zu werden? Also ich spiele jetzt darauf an, positiven Zugang zur Schule wieder zu erhalten, positive Erfahrungen zu machen, auch in eine Balance zu kommen zwischen diesen Fächern, die wir da jetzt anbieten im Grundschulalltag. Wie schätzen Sie die Situation ein?
Prof. Manfred Spitzer:
Ich kann wieder mit der Wissenschaft antworten: Es gibt eine große Studie, die gleich zwei Mal im weltwissenschaftlichen Fachblatt ‚Signings‘, im weltbesten Fachblatt, publiziert wurde. Da hatte man junge Leute, 7. Klässler, einfach gefragt, was wollt ihr denn machen in eurem Leben und da haben die gesagt, Musik, Sport oder irgendetwas. Und dann hat man gesagt, jetzt sagt doch mal, warum ihr das machen wollt, schreibt es auf und sagt, was ihr vorhabt, und die, die das gemacht haben, die waren hinterher besser in der Schule im Vergleich mit denen, die das nicht gemacht haben. Also, wenn ich lerne, bei eben und an den Dingen, die mir selber Spass machen, die ich selber will, das ich da etwas durchziehe, dass ich das durchhalte, dass ich das auch hinbekomme. „Yes, we can“, sagt Obama so schön. Wenn ich dieses Erlebnis selber habe, dann werde ich auch in der Schule besser. Das ist wirklich nachgewiesen und zwar mit deutlichem Effekt. Und ich glaube, auf diese Fähigkeit von Kindern, die heute fast brach liegt, können wir viel mehr aufbauen, und genau das tut das FitZ-Projekt und deswegen finde ich das auch sehr sinnvoll.
Ulrike Saalfrank:
Die sozial-emotionale Begabung, die stellt bei uns eine ganz gleichwertige Begabungsform neben den anderen Formen da, weil wir eben so für den ersten Durchlauf das gleichberechtigte Nebeneinander stehen haben wollten. Wir wissen natürlich, dass das in allen Begabungsformen eine Rolle spielen kann, weil es in dem Miteinander immer eine Rolle spielt, aber wir wollten es speziell herausgestellt haben, damit es so seinen Wert zurück erhält. Wie würden Sie das denn beurteilen?
Prof. Manfred Spitzer:
Ich halte das für völlig legitim, dass man sagt, wir wollen eben nicht nur die Rechenfähigkeit oder das Lesen fördern sondern wir wollen diese basalen Fähigkeiten, dass man mit seinen eigenen Emotionen besser klar kommt, dass man seine Ziele besser im Griff hat, dass man sich natürlich auch besser bewegen kann, das ist letztlich alles dasselbe. Das sind Steuerungsfunktionen, die man üben kann und üben muss, sonst wird man eben von anders gesteuert, von draussen über die Medien oder über alle möglichen ablenkenden Dinge. Wenn man gelernt hat, sich selber im Griff zu haben und das geht über Musik, über Sport, über alles Mögliche. Dann kann man das. Dann kann man das auch in allen Bereichen. Deswegen ist das wichtig, dass man hier die Kinder eben bei dem packt, was sie am meisten interessiert, wo sie auch wirklich gut sind, und das dann mit denen macht. Und dann findet jeder so seines, mit dem er das dann üben kann und jeder kann dann, auf seine Weise, in ganz allgemeiner Weise wachsen und darauf kommt es an.
Ulrike Saalfrank:
Ich komme jetzt auch in relativ viel Schulstandorten rum und sehe da immer wieder auf der einen Seite gibt es so überförderte Kinder und auf der anderen Seite gibt es Kinder, die aus den bildungsferneren Schichten kommen und eher wenig an Input erhalten. Wir versuchen mit dem FitZ beide Gruppen gleichermaßen, ganz gleichberechtigt zu erreichen. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?
Prof. Manfred Spitzer:
Ja, also, ich glaube, dadurch, dass es ja ungezwungen ist, nicht aufgesetzt, sondern eben Spass macht, werden diejenigen, die wenig Angebote von zuhause vorfinden, die werden da etwas vorfinden. Umgekehrt, diejenigen, die vielleicht von zuhause überfordert sind, die werden hier etwas finden, wo sie eben genau nicht überfordert sind und das dann wahrscheinlich langfristig lieber machen. Ich glaube, dass ein Ansatz, der einfach auf das einzelne Kind schaut, was es möchte, was kann das Kind, und wo kann es wachsen, der kann allen Kindern nützen und da werden auch alle Kinder, die schon überforderten und oder die noch gar nicht geforderten letztlich hin tentieren. Insofern ist das genau der Ansatz, mit dem man es schaffen kann, dass man das ganze Spektrum erreicht.
Ulrike Saalfrank:
Wie muss unser Blick sein, oder wie muss die Förderung sein, damit es nicht zu einer Überforderung kommt, sondern zu einer Anregung?
Prof. Manfred Spitzer:
Ich werde oft gefragt: „Sagen Sie mal, mein Kind macht schon chinesisch und Tennis und Yoga und Geigespielen und im Ballett auch. Ist das jetzt zuviel?“ Meine Antwort ist ganz einfach. Wenn es allen Beteiligten Freude macht, ist es nicht zu viel. Sobald alle nur noch genervt sind, weil sie von Tennis zum Yoga schon wieder zu spät gekommen sind, dann ist es zuviel. Man muss nur hinschauen und sieht es den Kindern sofort an. Ein Freund von mir, der hat sein Kind solange Geige spielen lassen, bis es auf die Geige erbrochen hat und soweit muss es nicht kommen. Man sieht es schon vorher. Wenn es den Kindern Spass macht, dann machen die unglaublich viel. Ich kenne Kinder, die machen wirklich richtig, richtig viel. Aber es macht ihnen Spass.
Ulrike Saalfrank:
Was halten Sie denn an sich von einer Hochbegabten-Förderung? Macht das heutzutage Sinn oder sollte man das in Einem betrachten oder, so wie Sie sagen, eher auf Anregung der einzelnen Kinder, die sehr individuell betrachten?
Prof. Manfred Spitzer:
Das Thema Hochbegabung ist ziemlich schwierig, weil auch Verschiedenes drunter verstanden wird. Zunächst einmal muss man wissen, dass es oft Einzelbegabungen sind, dass also die hochbegabten Kinder keineswegs einfache Schüler sind. Die sind oft ganz schwierige Schüler. Das ist das Erste. Das andere ist, wenn eine Schule individualisiert unterrichtet, dann kann im Grunde genommen, der Hochbegabte seine Art der Förderung, die er braucht dort bekommen. Er wird sich dort nicht langweilen, weil da immer noch etwas möglich ist, dass er noch etwas Besonders macht oder auch den anderen schon mal etwas erklärt und dadurch lernt man sowieso am meisten. Also, das ist dann nicht, dass man noch einen Hilfslehrer hat und deswegen fauler sein kann, sondern im Gegenteil, nein, der Hochbegabte dann zum Lehrer dann mit wird, der profitiert selbst am allermeisten davon. Denn wenn ich etwas unterrichte, habe ich es hinterher wirklich ganz gut drauf und vergesse es auch nicht mehr. Insofern glaube ich, dass man mit der Hochbegabung nicht so übertreiben muss, wie man es heute gerne tut.
Es macht ja keinen Sinn, dass man das Gymnasium, was früher einmal eher eine Einrichtung für Hochbegabte war, weil vier Prozent der Leute eines Jahrganges aufs Gymnasium gingen, dass man sagt, jetzt sollen 60 Prozent eines Jahrgangs aufs Gymnasium gehen und dann haben wir aber noch ein paar ganz Schlaue, ja da brauchen wir jetzt wieder etwas ganz Neues dafür. Also, es ist eine ganz eigenartige Entwicklung. Dann schaffen wir ganz unten, die Hauptschule ab und setzen oben Hochbegabte oben drauf und letztlich verschieben wir nur alles und haben genau wieder das gleiche wie vorher auch. Das können wir uns schenken. Also, ich glaube, dass da, auch wieder mit mehr Augenmass dieses Problem angegangen werden soll und dann noch etwas: Hochbegabte müssen immer mit normalen Menschen umgehen und das lernen sie auch am besten, indem sie mit denen auch im normalen Lernalltag umgehen. Ja, deswegen, so eine Elite-Schmiede, das mag an der Uni dann sinnvoll sein, und vielleicht auch in höheren Klassen mal am Gymnasium, dass man speziell, zum Beispiel besonders gute Sportler, die gehen ja heute schon auf ein Sportgymnasium. Warum sollen nicht gute Mathematiker auf ein Mathematik-Gymnasium gehen dürfen? Aber ich glaube, dass sind dann schon Einzelne und bei denen sollten wir es auch belassen.
Ulrike Saalfrank:
Sie sagten Individualisieren. Das heisst, unser Bildungssystem ist ja gar nicht individualisierbar?
Prof. Manfred Spitzer:
Nein, im Moment noch nicht.
Ulrike Saalfrank:
Die Bildungslandschaft der Zukunft – wie kann die aussehen? So ein Schulsystem? Weil wir natürlich Zeit, auch Ressourcen-orientiert eine bestimmte Anzahl von Lehrern zu Schülern haben. Das ist ja schon ein Grundproblem. Wenn man dann sagt, dass jeder nach seiner Begabung, individualisiert gefördert wird, wo geht es dann hin?
Prof. Manfred Spitzer:
Inklusion sage ich jetzt einfach einmal ungeschützt, das ist natürlich auch ein ganz schwieriges Thema, gerade in Deutschland. Wir haben eigentlich das Problem im weltweiten Vergleich super gut gelöst. Wir haben da unsere Spezialisten und die machen das auch gut. Diese ganze UNO-Initiative, die ist ja dafür da, dass es anderswo überhaupt nichts für die gibt und dass die überhaupt einmal gefördert werden. Bei uns werden sie speziell gut gefördert und wenn man jetzt einen Blinden oder einen Ertaubten oder einen stark Minderbegabten in eine normale Schule tut, hat er erst einmal gar nichts davon. Im Gegenteil, dass muss schief gehen. Deswegen laufen ja viele Eltern auch Sturm gegenüber diesen Inklusionssachen. Die Eltern, die es betrifft, die haben recht, denn im Grunde genommen, muss man sagen, werden unter dem Deckmäntelchen der Inklusion heute gerne Schulen dicht gemacht und das spart Geld. Da ist man sozusagen ganz modern und spart auch noch, dass man aber, wenn man Inklusion ernst nimmt, überhaupt kein Personal spart, sondern eher mehr braucht, weil dann in der Klasse noch ein Lehrer sein muss und wenn dann einer ist, dann braucht es halt dann in den verschiedensten Klassen noch einen. Und wenn man die bündelt, vielleicht nicht so viel. Also, ich glaube, das muss man ganz klar sagen, da wird heute auch viel herum gestümpert und ich muss sagen, wir haben in Deutschland wirklich ein gut funktionierendes System von spezialisierten Schulen und Angeboten, wo viele Leute auch gut aufgehoben sind, das wir wirklich nicht einfach und leichtfertig über Bord schmeissen sollten.
Ulrike Saalfrank:
Für diesen individualisierten Unterricht. Wie könnte so eine Schule in der Zukunft aussehen, damit das gelingt, was Sie vorhin gesagt haben?
Prof. Manfred Spitzer:
Ja, was man sicherlich braucht in Schulen, die individualisiert lehren und lernen, das sind kleine Klassen oder eben dann noch ein zweiter Lehrer in der Klasse, die dann eben sich um besonders gute oder besonders schwache Schüler kümmern und die eben dafür sorgen, dass tatsächlich jeder in dem Bereich arbeitet, in dem er gerade das bewältigen kann und nicht so getan wird, wie das heute gerne geschieht, dass alle Kinder auf gleichem Niveau sind. Das sind sie nicht und wenn man das erst einmal akzeptiert, dann kommt man ganz schnell dahin, dass man individualisierter vorgehen muss, als das heute generell geschieht.
Ulrike Saalfrank:
Würde das dann auch die Personalschlüssel in den Kindertagesstätten betreffen?
Prof. Manfred Spitzer:
Auf jeden Fall. Natürlich. Statt dass man da Laptops und Smart-Phones anschafft, gehören da mehr Leute hin. Das ist ganz einfach.
Ulrike Saalfrank:
Kunst und Theater sind Ihrer Ansicht nach sehr wichtige Schulfächer. Warum?
Prof. Manfred Spitzer:
In diesen Betätigungsfeldern, sage ich mal, haben Menschen die Möglichkeit, Dinge zu tun, die ihnen Spass machen. Gleichzeitig muss man aber, um ein ganz banales Beispiel zu bringen, sich beim Sport normalerweise an Regeln halten. Alleine Schwitzen ist hier nicht gemeint, sondern regelgeleitetes Turnen oder Ballspielen oder was auch immer. Wenn man ein Lied singt und hört nach zwei Tönen auf, dann macht das keinen Spass. Man muss es fertig machen und bei einem Werkstück ist das genauso und beim Theaterspielen erst recht. Es geht also letztlich in diesen Fächern darum, Handlungen zu planen, auszuführen und wenn ich sie ausgeführt habe, dann auch Spass an den Handlungen zu haben. Gleichzeitig sorgt aber der Spass, von dem ich weiß, ich habe ihn, wenn ich fertig bin, dafür, dass ich die Handlung durchziehe und was lerne ich dann – eine Handlung durchziehen. Und das ist das Wichtigste, was ich lernen kann, denn dieses ist eine typische Frontalhirnfunktion und das Frontalhirn reift im Kindergarten, das reift in der Grundschule, das reift noch bis nach dem 20. Lebensjahr. Wichtig ist aber, während es reift, muss es schon etwas zu tun haben, damit es gleich etwas lernt, damit die neuen Nervenzellen, die da noch online gehen, die sind schon da, aber sie werden erst richtig verbunden mit dem Rest des Gehirns. Die müssen sozusagen gleich einbezogen werden und in ihrer Funktion einbezogen werden und genau dieses zielgerichtete, sozusagen Zeit überbrückende und Ziel verfolgende Verhalten, das muss ich einüben und das kann ich genau mit diesen Fächern einüben und sonst eben nicht. Also, wie lerne ich denn, mich selber zu disziplinieren oder eben nicht? Dauernd abgelenkt zu sein, weil da etwas ist, und da und da und da, sondern das Ziel zu verfolgen. Nicht dadurch, dass hinter mir einer steht und sagt, du machst das jetzt, da lerne ich Angst zu haben, da lerne ich zu kuschen, da lerne ich kontrolliert zu werden. Mich selbst zu kontrollieren, das ist ja paradox, das kann ich ja eigentlich gar nicht lernen, denn ich muss es ja eigentlich schon können, wenn ich es machen will. Aber es ist eben doch nicht paradox, bzw. die Paradoxie verschwindet, wenn es um Aufgaben geht, die in sich noch ein positives Erlebnis vermitteln, denn das will ich ja. Und so muss ich zuerst halt nur ein kleines Liedchen singen, am Ende vielleicht eine ganze Aufführung machen mit dem Schulchor oder so irgendetwas. Und am Anfang mache ich ein Werkstück, das geht drei Minuten im Kindergarten und am Ende der Grundschule darf das auch schon ein paar Stunden dauern. Und so werden immer grössere Zeiträume überbrückt und genau das ist es, was man, wenn man es mal kann, überall brauchen kann. Gleichzeitig lernt man noch Selbstwirksamkeit, nicht nur Selbstkontrolle, nämlich, ich habe es hinbekommen, ich habe es geschafft. Und es gibt gute Studien, die zeigen, dass Selbstkontrolle und Selbstwirksamkeit mit zum wichtigsten gehören, was ein Mensch überhaupt lernen kann. Und es gibt Studien, die zeigen, dass das eben auch von einem Bereich auf den anderen greift, wenn ich es also in der Musik kann, kann ich es anderswo auch. Ich kann es auf jeden Fall auch in der Schule, wenn ich es ausserhalb in einem anderem, nicht intellektuellen Bereich kann, nachgewiesen und es hat mindestens einen so grossen Einfluss auf den Schulerfolg wie zum Beispiel der Intelligenz-Quotient. Das wissen wir alles heute. Das wird aber viel zu wenig bedacht im schulischem Alltag und deswegen noch einmal meine Forderung. Sport, Musik, Kunst und Theater ja, das sind die wichtigen Schulfächer, gerade im Kindergarten, in der Grundschule und dann noch in der unteren Sekundarstufe I auf jeden Fall.
Ulrike Saalfrank:
Und was ist mit uns geschehen, dass wir das so wenig berücksichtigen, solche Erkenntnisse, im Gegenteil, dass sie sogar weiter zurückgehen?
Prof. Manfred Spitzer:
Ich glaube, wir haben es lange nicht kapiert, und haben uns zu sehr auf eine sehr, ja formalistische Sicht der Bildung im Sinne von Wissen konzentriert. Das Wissen, das ist es nicht. Die Medien zeigen halt auch so ein Bild von Bildung, welcher hinterindische Nacktfrosch kann bei minus vier Grad kopulieren. Wer das weiss, der gewinnt den Jackpot oder so etwas. Das ist überhaupt völlig unwichtig. Solche verrückten Fakten interessieren ja keinen Menschen. Wichtig ist ja, kann der Mensch etwas? Kann er hinstehen? Kann er etwas durchziehen? Ist er zuverlässig? Kann er auch für sich selber klar sagen, wo es lang geht? Das sind Fähigkeiten, seine eigenen Stärken und Schwächen kennen. Viele Schüler kommen aus dem Gymnasium raus, haben Abitur, wissen aber nicht wirklich was sie können und was sie nicht können. Und im Grunde genommen ist das unbedingt eine Aufgabe der Schule, dass man es da rausbekommt. Wo soll man das sonst rausbekommen? Indem man sich mit den Dingen konfrontiert und mit verschiedenen Dingen konfrontiert und es ist schon schlimm, wenn man die Schule durchlaufen hat und ja, ich kann eigentlich alles, es interessiert mich eigentlich alles, aber dann doch wieder nichts Wirkliches. Das darf nicht das Ergebnis von Schule sein.
Ulrike Saalfrank:
Ist denn damit unser Schulsystem zu einseitig ausgerichtet, um auch den grossen zukünftigen Anforderungen gerecht zu werden?
Prof. Manfred Spitzer:
Wer wirklich das für Schule hält, der hat die Schule schon kaputt gemacht und hat auch nicht verstanden wofür Schule wirklich da ist. Das muss ich ganz klar sagen.
Ulrike Saalfrank:
Und wie würde, Ihrer Meinung nach, eine Schule oder ein Kindergarten im besten Falle aussehen?
Prof. Manfred Spitzer:
Nun, jedes Kind ist die eigene Messlatte und jedes Kind ist verschieden und mit der Verschiedenheit wird gearbeitet. Vor allem mit den Stärken. Wir neigen heute gerade in der Schule dazu: Ich kann mich an einen Mathematiklehrer von uns erinnern, der hat gesagt, beim Zurückgeben einer Arbeit: „Diese Aufgabe hat jeder gelöst, für die gab es natürlich keinen Punkt.“ So nach dem Motto, die Aufgabe, so würde das der Psychologe heute ausdrücken, hat keine diskriminierende Validität. Sie trennt nämlich nicht zwischen guten und schlechten Schülern und deswegen ist es keine gute Aufgabe. Andererseits, wenn alle die Aufgabe schaffen, ja, prima, haben eben alle die Aufgabe geschafft und wenn ich da niemanden einen Punkt gebe, dann mache ich halt schon im Grunde genommen die Atmosphäre kaputt. Das darf nicht sein und unsere Noten und die Art wie wir sie vergeben. Wir brauchen Leistungskontrollen. Wir müssen klar stellen, dass jemand, der einen bestimmten Beruf ergreift, dazu befähigt sein muss und auch die Ressourcen hat, das zu können. Aber was wir nicht dürfen, sind die, ich sage mal, Instrumente der Willkür (und das sind die Noten schon von der Art wie sie gestrickt sind) sehr ungünstig gestrickt sind, und das könnte man verbessern.
Ulrike Saalfrank:
Wie könnte unsere Gesellschaft denn sicherstellen, dass es die Kinder so fördert, dass ein Grossteil der Kinder auch teilhaben will an der Gesellschaft?
Prof. Manfred Spitzer:
Ich glaube, dass man vor Allem mit den Stärken arbeitet. Wir wissen, in der Medizin, in der Reha, da nützt es überhaupt nichts, den Patienten immer auf seine Schwächen hinzuweisen, mit denen zu tritzen, er kann es halt nicht. Ein Mensch, der nach einem Schlaganfall nicht sprechen kann, da nützt es nichts, wenn ich jeden Tag mit dem Shakespeare lesen will. Ich kann aber noch mit ihm in den Randbereich, wo noch ein bisschen was geht, wenn er singen kann, dann singe ich mit ihm, wenn er laufen kann, dann laufe ich mit ihm. Also, ich mache die Dinge, die er kann und versuche dadurch das, was nicht geht, so ein bisschen mitzunehmen und mit zu trainieren anstatt, dass ich jeden Tag das mache, was wirklich nicht geht. Da erzeuge ich nur Frustration. Und was die Rehabilitation weiß, das sollte auch in den Schulen auch bekannt sein und entsprechend sollte da auch gearbeitet werden.
Ulrike Saalfrank:
Wie können wir als Gesellschaft wieder dahin kommen, Gesellschaft als gut zu empfinden?
Prof. Manfred Spitzer:
Nun, ich glaube, wir müssen weg von dem Begriff Bildung, der nur Bildung für irgendetwas darstellt. Also, wir brauchen Bildung, damit wir wirtschaftlich voran kommen, wir brauchen Bildung, damit wir diese oder jene Dinge erfüllen. Nein!
Bildung ist gut, weil das Wahre und das Schöne und das Gute zusammengehören. Das ist der Grundgedanke der Aufklärung. Das kann man in Stein gemeisselt zum Beispiel am Frankfurter Theater lesen und was ist damit gemeint? Damit ist gemeint, dass es interessant ist, sich mit den Dingen auseinander zu setzen, dass wenn ich etwas als etwas erkenne, habe ich einen unglaublichen Spass dabei, das geht allen Leuten so, das geht schon Babys so. Aber uns auch. Und wie auch die Mathematiker immer sagen, eine ganz einfache Formel, eine gewisse ästhetische Qualität hat, die eben irgendwas etwas anderes nicht hat. Also, ich glaube schon, dass da etwas dran ist, dass wir Menschen sozusagen, daran wachsen an dieser Bildung, denn das bringt uns weiter und das bringt jeden Menschen für sich weiter und das ist der Bildungsbegriff, den ich habe. Bildung ist nicht für irgendetwas gut. Bildung ist zunächst einmal für den gut, für den jeweils einzelnen Menschen gut, der kommt besser mit der Welt klar und vor allem besser mit sich selber, klar, je weiter er in seinem Bildungsprozess gekommen ist. Ich denke, wenn wir das wieder in den Blick nehmen, dann kann auch niemand mehr stöhnen, wenn er die nächste Bildungsdebatte hört, sondern dann wird er sagen, ja klar, darum muss es gehen und wie kommen wir da wieder hin und ich glaube, darum geht es wirklich im Moment in der deutschen Bildungsdebatte. Man muss weg von zu einseitigen und verkürzten Begriffen von Bildung.
Ulrike Saalfrank:
Zunehmende psychische Erkrankungen bei Kindern, die auch als Ausdruck unserer Zeit verstanden werden, zumindest bestimmte Formen – jetzt denken Sie mal an die wahnsinnige Zunahme von ADHS-Diagnosen angenommen. Was tun?
Prof. Manfred Spitzer:
Bei Aufmerksamkeitsstörungen ist in der letzten Zeit sehr viel passiert. Zunächst einmal hat man sie überhaupt in den Blick bekommen in den letzten, ich sage mal 10 oder 20 Jahren, einfach deswegen, weil früher hat halt jemand ein bisschen gezappelt und des war halt so und heute sagt man, ja, der muss mal zum Arzt gehen, wir müssen eine Diagnose stellen und und und. Wenn jetzt jemand tatsächlich nicht nur bei einer Lehrerin, sondern bei allen Lehrern und zuhause auch und beim Arzt vielleicht auch noch Mühe hat, am Punkt zu bleiben und sehr leicht ablenkbar ist, dann hat er vielleicht eine Aufmerksamkeitsstörung. Jetzt kann man fragen, wo hat er die her?
Nun, wir wissen, dass eine ganze Menge Genetik dabei ist. Also, die einen sind sozusagen leichter ablenkbar und die anderen sind nicht leichter ablenkbar und sind fokussierter. Das ist das eine. Das andere ist aber, dass wir vieles mit unseren Kindern heute anstellen, was ihnen eine Aufmerksamkeitsstörung macht. Also, wir wissen zum Beispiel, der Medienkonsum im Kindergartenalter macht Aufmerksamkeitsstörungen im Schulalter. Und es gibt eine schöne Studie, die ist gerade vor ein paar Monaten erschienen. Wenn ein Kind zum Beispiel zeichnet und man bestimmt hinterher, wie konzentriert ist dieses Kind, dann ist das Kind konzentrierter. Man kann da Tests machen. Also, einen Turm strategisch umbauen, Zahlen rückwärts nachsprechen oder Kopf, Schulter, Knie und Zeh und solche Spiele machen und schauen wie gut kann einer reagieren oder so gar hier ist ein Stück Schokolade. Jetzt iss es aber erst einmal nicht. Wie gut kann das das Kind? Ja, und man sieht, dass eine konzentrative Aufgabe, also zeichnen macht das Kind in diesen Tests besser. Diese Tests messen Frontalhirnfunktionen. Das Frontalhirn reift beim Kind noch.
Wenn man einen schnellen Cartoon anschaut (und das wissen alle Mütter schon lange, aber die Wissenschaft hat es erst im September letzten Jahres festgestellt), ist es tatsächlich so, dass diese Funktion richtig in den Keller geht. Man ist einfach im Frontalhirn und in diesen Leistungsfähigkeiten längst nicht mehr so gut, wenn ich dieses ganz schnelle Zeug sozusagen verarbeitet habe. Was man auch weiss, ist, dass das Frontalhirn durch Zucker versorgt sein will, sonst geht es nicht so gut. Und wenn viele Kinder heute zum Beispiel ungefrühstückt, aber dafür schon mit einer halben Stunde fernsehen, in die Schule kommen, dann ist das so, also wenn sie sich vor einem Marathonlauf ins linke und ins rechte Knie schiessen und dann glauben, sie könnten gut laufen. Denn man hat auf doppelte Weise dem Frontalhirn erst einmal seine Existenzgrundlage entzogen, sage ich jetzt einmal durch kein Frühstück und stattdessen Fernsehen. Das ist wirklich doppelt schlecht. Aber ich weiss, dass Millionen Schüler heute schon früh fernsehschauen anstatt zu frühstücken und das ist ganz, ganz furchtbar.
Ulrike Saalfrank:
Also, ich glaube am Frühstück sind glaube ich alle dran, am Schulfrühstück für Verbesserung zu sorgen. Da wird viel gemacht. Das mit dem Fernsehen scheint fast nicht zurückzudrehen zu sein. Was können wir tun?
Prof. Manfred Spitzer:
Ich glaube, dass bei den Medien wir tatsächlich mit viel, viel mehr Augenmass vorgehen müssen, als wir es heute tun. Wenn man sich anschaut, wie heute mit unglaublicher Massierung Schulen mit digitalen Medien aufgerüstet werden. Das kostet Unsummen und es gibt wirklich keine Studie, die zeigt, dass das irgendetwas für den Lehrerfolg bringt. Es gibt eine ganze Reihe von Studien, die zeigen, dass es nichts bringt. Es gibt sogar eine Reihe von Studien, dass der Lernerfolg schlechter wird. Und es gibt auch eine ganze Reihe, ich sage mal, Grundlagenforschungsinhalte, die eigentlich klar machen, dass ein Computer zum Lernen nicht gut ist. Denn was macht ein Computer, warum sitze ich den ganzen Tag vor dem Computer? Der nimmt mir geistige Arbeit ab. Das ist doch klar. Jeder, der vor dem Computer sitzt, bekommt vom Computer geistige Arbeit abgenommen. Nun wissen wir aber, dass Lernen letztlich darin bestehet, dass wir geistig arbeiten, denn wenn wir unseren Geist verwenden, ändert er sich dadurch, dass wir ihn verwenden, hinterlässt Spuren, das macht lernen. Wenn ich also geistige Arbeit auslagere, dann kann ich dadurch nicht besser lernen, sondern schlechter. Das ist ganz simpel. Das wissen wir seit 40 Jahren.
Wer behauptet, mit dem Computer lernt es sich besser, der hat eigentlich zunächst einmal eine riesige Beweislast, denn es ist erst einmal klar, es kann gar nicht sein und zweitens gibt es Studien, die zeigen, es ist auch nicht so. Das wird nur von niemand zur Kenntnis genommen. Es gibt so viele Marktschreier, das geht bis hin zur Enquete-Kommission des Bundestages, die letzten Oktober eine Empfehlung ausgesprochen hat, und Enquete-Kommissionen sind erstens überparteilich und Legislaturperioden übergreifend. Deren Empfehlungen gelten also für lange Zeit und egal wer gerade regiert. Und eine Empfehlung ist, jedem Schüler seinen Laptop. Und noch einmal. Das ist durch nichts, aber durch gar nichts empirisch zu rechtfertigen.
Ich habe mir die Expertenliste der eingeladenen Experten angeschaut, die wiederum liest sich fast wie ein Who-is-Who der Lobbyisten der entsprechenden Firmen, die daran viel, viel Geld verdienen, und das muss ich schon sagen, das stimmt mich sehr nachdenklich, dass man so unkritisch, sogar parteiübergreifend mit diesem Thema umgegangen ist . Und noch einmal, wir schaden da nachweislich unseren Kindern. Und wenn es dann in der übernächsten Empfehlung heisst, die sollen auch viele Computerspiele spielen, damit sie die mal lernen, dann hört bei mir das Verständnis völlig auf, denn wir wissen, was die da alles für einen Unfug lernen und es kann nicht Aufgabe der Gesellschaft sein, für solche Unbildung zu sorgen und dafür auch noch öffentliche Mittel auszugeben. Das tun wir aber gerade im großen Stil und da muss man sich ganz heftig wehren.
Ulrike Saalfrank:
Geht es da nicht mehr um den bewussten Umgang mit diesen Medien?
Prof. Manfred Spitzer:
Viele Leute meinen, man muss dann eben Medienkompetenz fördern. Das heisst, man muss den Dingen klar umgehen lernen, um das dann zu können. Aber dagegen muss man ganz klar sagen, die digitalen Medien haben ein Suchtpotenzial, so wie Alkohol zum Beispiel und bei Alkohol wird ja auch zum Beispiel niemand sagen, wir müssen im Kindergarten schon Bier trinken üben, damit man als Erwachsener das dann gut kann. Sondern wir sagen ganz klar, das tut den Kindern nicht gut und deswegen gibt es nur eine einzige Möglichkeit damit umgehen zu lernen, in dem man erst einmal gar nicht damit umgeht.
Wenn man dann 18 ist und erwachsen und schon eine Bildung hat, dann kann man hoffen, dass die meisten es dann hinbekommen. Mit den Computer und den digitalen Medien ist es letztlich genauso. Wenn die dauernd zur Verfügung sind, habe ich ein hohes Suchtpotenzial. In Korea zum Beispiel, das ist ein Land, die haben noch mehr Medien als wir. Da blinkt es überall Ihnen entgegen, die haben, das sind nicht meine Angaben, sondern welche vom Gesundheitsministerium, 12 Prozent der jungen Leute sind Suchtkrank, was Internet und Computersucht angeht. Wir haben Gott sei dank noch viel weniger. Aber diese Zahl alleine schon, die stimmt einen sehr nachdenklich, so dass ich sagen muss….
Ulrike Saalfrank:
Was würden Sie denn sagen, Professor Spitzer, was muss man heute haben oder sein oder können um erziehen zu können?
Prof. Manfred Spitzer:
Ja, ich glaube, das wichtigste ist, dass man zunächst einmal selbst in sich sozusagen ruht, selber weiss, was man will, auch weiss, dass man jemanden etwas vermitteln möchte, dass man jemanden stark machen möchte, um in der Welt besser klar zu kommen. Wer dieses Bedürfnis hat, wer sich so sieht, der ist der Richtige.
Ulrike Saalfrank:
Eine gewisse Leidenschaft. Es geht um die Leidenschaft, die einen dann auch ein Stück fürs Leben ….
Prof. Manfred Spitzer:
Es gibt auch eine schöne Untersuchung. Es gibt eine große Varianz, wie Lehrer auf die Anforderungen und Anstrengungen ihres Berufes reagieren und nicht wenige reagieren mit Stress und dann eben auch mit Überforderung bis hin zu Burn-Out. Und das interessanteste an dieser großen Untersuchung an über 16.000, die da mitgemacht haben, war folgendes. Man kann tatsächlich Studenten im ersten Semester fragen: „Sagt mal, wie sicher seid ihr denn, dass ihr Lehrer werden wollt?“ Wenn die sagen, ich bin mir 100 prozentig sicher, dann haben die hinterher auch keinen Stress und auch kein Burn-Out und je unsicherer die sind, desto eher haben die hinterher Stress und Burn-Out. Da muss man ganz klar sagen, wer sich nicht sicher ist, ob er wirklich zum Lehrer geeignet ist, der soll es nicht werden, weil dann geht es schief.
Ulrike Saalfrank:
Da gibt es ja auch das wunderbare Experiment mit dem schwedischen Lehrer, wo die allerbesten Lehrer in diese Brennpunkt Schulen geholt wurden. Das ist jetzt außerhalb der Reihe. Es gibt dieses Experiment, ich habe so eine Hypnotherapie- Fortbildung gemacht und da wurde es immer transportiert, dass in Schweden in einem Experiment, die allerbesten Lehramtskandidaten in die sozialen Brennpunkte geholt wurden um zu schauen, was eine Lehrerpersönlichkeit, jetzt jemand, der diesen Job wirklich ausgesprochen gerne macht, was dann da geschehen kann, was da stattfinden kann und was tatsächlich passiert ist, dass in nicht all zu langer Zeit, zumindest nach einem halben Jahr da auch in den Schülern wahnsinnig viele Lernfortschritte gab. Das war so ein bisschen die Leidenschaft.
Prof. Manfred Spitzer:
Also, ich kenne natürlich auch ein umgekehrtes Beispiel. Da hat man eine Lehrerin, die hat in New-Hampton, Vermont, also irgendwo in einem netten Bundesstaat, ländlich, hat die den Preis gewonnen, beste Lehrerin des Bundesstaates oder so, und dann hat die sich freiwillig nach Washington gemeldet. Ein paar Häuser vom Capitol weg ist ja sozusagen Slum und da war sie an der Schule und am Ende hat sie gesagt, ich habe keine Chance. Ich komme an die gar nicht ran.
Vielen Dank für das Gespräch!