Gerade in den letzten Jahren zeigt sich weltweit zunehmend ein Bild, das nachdenklich stimmen kann: Immer mehr bröckelt die Demokratie und autoritäre Herrscher übernehmen das Szepter. Immer mehr werden Menschenrechte mit Füssen getreten. Immer mehr steigt der Unmut der Bevölkerung gegen wirtschaftliche und soziale Eliten, die dennoch immer mehr besitzen und den Ton immer unmissverständlicher angeben. Es ist überfällig, die zunehmenden Wirren in der Welt zu durchschauen und für sich und unsere Gesellschaft die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ein Verständnis über menschliche Entwicklung oder auch Fehlentwicklung ist dazu der zentrale Schlüssel zur Erkenntnis. Fehlende Kenntnis kann aber verheerende Folgen haben auf die aktuellen Entwicklungen.
Stärke durch Vielfalt
Unsere Welt ist vielfältig und komplex. Jeder Mensch ist einzigartig und vielschichtig. Die Einzigartigkeit als Charakter oder Temperaments-Struktur beinhaltet Stärken und Schwächen. Wenn sich verschiedene Menschen zu einer Organisation oder Gruppe zusammenfinden, können die Schwächen ausgeglichen werden: Es entsteht dadurch ein Organismus, der mehr Stabilität und Ganzheit bietet.
Die Vielfalt ist ein dauerhaftes Erlebnis, das uns im Zeiterleben (Frühling-Sommer-Herbst und Winter) oder in den Himmelsrichtungen begegnet (Westen-Süden-Osten-Norden). Bei Menschen führen unter anderem etwa Klimabedingungen zu unterschiedlichen Charakter-Strukturen (Kälte den introvertierten Denker, Wärme den extravertierten Empfinder).
Die einzelnen Fähigkeiten sind weder schlecht noch gut. Nur Einseitigkeiten und Extremismen fallen aus dem Ganzen und wirken anfällig und schwach. Die Verbindung der Einzelteile führt zu Ganzheit, Harmonie und Stärke.
Vielfalt in der politischen Landschaft
Auch unsere politische Landschaft ist geprägt durch Vielfalt. Auch hier gilt das Prinzip: Wenn sich unterschiedliche Positionen verbinden, entsteht Ganzheit und Stärke. Im Demokratie-Prinzip tritt dieser Grundgedanke im Zusammenleben des Menschen in Erscheinung. Auch wenn die Demokratie immer Spannungen enthält und vieles scheinbar nicht rund läuft, ist sie doch in der Entstehungsgeschichte der Zivilisation ein sicherer Wert. Winston Churchill meinte einmal: „Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen.“
Die politische Landschaft kann bildlich wie folgt dargestellt werden.
Ich nenne diese Art von Vielfalt horizontal, weil ihre Teilaspekte gleichwertig sind.
Horizontale und vertikale Vielfalt
Neben der horizontalen Vielfalt besteht auch eine vertikale Vielfalt. Sie ist charakterisiert durch Entwicklung. So gibt es etwa einen unentwickelten Denker und einen entwickelten. Überhaupt ist jegliches Menschsein unter anderem charakterisiert durch Entwicklung und Entwicklungsstufen. Der Säugling entwickelt sich zum Kind, dieses zum Erwachsenen, dieser zum reifen Menschen und schliesslich wird der Mensch wieder bedürftig wie ein Kind.
Entwicklung kann sich auf das Ich beziehen, die Entwicklungspsychologie des einzelnen (Ich-Entwicklung nach Jane Loevinger, Susan Cook-Greuter und Terry O’Fallon) oder auf Bewusstseins-Entwicklung im gesellschaftlichen Bereich (Jean Gebser, Clare W. Graves und Don Beck). Entwicklung kann sich aber auch auf einzelne Linien wie die moralische Entwicklung (präkonventionell-konventionell-postkonventionell, Lawrence Kohlberg) oder die kognitive Entwicklung (prärational-rational-postrational, siehe zudem auch Jean Piaget).
Muster menschlicher Entwicklung: Ich Entwicklung und Bewusstseinsentwicklung
Die Entwicklung vollzieht sich aus den Erkenntnissen der Forschung (vgl. insb. Jane Loevinger und Robert Kegan) nach einem bestimmten Muster, das vereinfacht wie folgt dargestellt werden kann:
Die idealtypische menschliche Entwicklung und Reifung bringt zunehmende Freiheit von Trieben und Begierden und zunehmende Verantwortung und Umsicht mit sich. Es ist eine Entwicklung von der Egozentrik (Selbstbezogenheit) zur Allozentrik (Bezogenheit auf das Umfeld).
Die Entwicklung wird materiell sichtbar in der Biografie des Menschen. Körperlich kann ein Mensch aber altern ohne seelisch zu reifen. So kann ein älterer Mensch auf der Stufe des Egozentrikers stehen, oder Teile der Persönlichkeit können aus dieser Ebene wirken. Deshalb kann es ergänzend Sinn machen, die Entwicklungsstufen als Archetypen darzustellen (mit kursiv jeweils den negativen Archetypen).
Politische Haltung und Bewusstseinsentwicklung
Politische Haltungen können nun nicht nur horizontal sondern auch vertikal im Sinne der Entwicklung (nach oben hin) dargestellt werden. Anders als bei den gleichwertigen horizontalen Haltungen entsprechen die vertikalen Haltungen der Bewusstseinsentwicklung oder menschlichen Reife. Zwar kann auch hier nicht generell von schlechter oder besser gesprochen werden: Ein Kind ist ja nicht schlecht, weil es kindlich ist. Ein Greis ist auch nicht besser als ein Kind, weil er mehr Erfahrung hat und Fähigkeiten entwickelt hat. Genauso wenig ist eine Eichel besser oder schlechter als eine alte Eiche. Es handelt sich um unterschiedliche Entwicklungsstadien mit unterschiedlich stark gelebten Ressourcen oder Potenzialen. Der Wert des Lebens misst sich am Sein und nicht an Fähigkeiten (und im Sein sind wir alle gleich).
Trotzdem macht es Sinn, gesellschaftliche Verantwortung und Führungsaufgaben in die Hände der reifen Menschen zu legen. So wurde es ja auch jahrhundertelang praktiziert, etwa im Rat der Ältesten, der aus der Weisheit der Lebenserfahrung Entscheide fällte. Auch in einer Familie macht es Sinn, dass die Führung bei den Eltern liegt und nicht bei den Kindern (was nicht heisst, dass die elterliche Fürsorge die Wesenhaftigkeit des Kindes in allen Belangen respektieren und fördern sollte).
Ausgehend von den skizzierten Darstellungen über Entwicklungspsychologie des Menschen (über die Kindheit hinaus) können wir eine reife, verantwortungsvolle Haltung des Menschen in Bezug auf Politik wie folgt darstellen:
Im Bild oben sind als Entwicklungsdimension rechts die Begriffe der Bedürfnispyramide nach Abraham Maslow dargestellt (Überleben, Sicherheit etc.)
Die unteren Stufen der politischen Haltungen sind bestimmt durch Egozentrik und Selbstbezogenheit, nationalistisch-autoritär respektive populistisch. Bei der mittleren Stufen der politischen Haltung ist die Demokratie anzutreffen und oben die internationalistisch-integrale Haltung, die letztlich einer Theokratie gleicht.
Deutung der gesellschaftlichen Entwicklungen aus integraler Sicht
Der Populismus ist gekoppelt an eine Klage oder Wut, die letztlich als Triebkraft aus der Egozentrik ersteht. Bei einem Politiker oder einer Politikerin geht es nun neben einer horizontalen Analyse im wesentlichen (und hier liegen die wirklichen Gefahren) um eine Analyse auf der vertikalen Ebene der inneren Reife. Meist handelt es sich bei einer regressiven Egozentrik um persönliche Verletzungen und daraus entstehenden Schmerz (Psychotrauma im weitesten Sinne). Wir sprechen hier vom verletzten inneren Kind, das seinen Schmerz nach aussen projiziert.
Die nachfolgende Tabelle zeigt einige Verhaltensweisen, die auf innere Reife schliessen lassen.
Die obige Matrix soll verdeutlichen, dass wir in der Veränderung der politischen Landschaft aktuell nicht nur einen Rechtsrutsch erleben, sondern einen Rückfall in autokratische (magische) Bewusstseinsstrukturen. Gerade im aktuellen amerikanischen Wahlkampf zeigt sich dieser Klasseunterschied deutlich: Es geht nicht nur um rechts-oder links, Demokraten oder Republikaner, sondern wie Kamala Harris im Chor der Demokraten warnt, um den Erhalt der Demokratie.
Auch wenn Trump nicht auf dem Entwicklungs-Niveau eines Kim Jong-un einzuschätzen ist, kann man doch deutliche Anzeichen einer Egozentrik, Streben nach Autokratie, Klage- und Wut-Populismus und einem präkonventionellen-prärationalen Handeln (wahr ist nicht das, was die Gesellschaft als wahr empfindet sondern was mir nützlich ist) erkennen. Neben nationalen Interessen ist es oft, so zeigt die Geschichte, einfacher, Gleichgesinnte als Partner zu gewinnen (Trump über Kim Jong-un: „Warum sollte ich ihn nicht mögen? vgl. hier)
Gerade auch China macht deutlich, welche Macht aus einer unreifen menschlichen Führung erstehen kann, wenn sie sich durch Globalisierung (Büdnispartner) und Technisierung (staatliche Kontrolle) aufspielt. (Wobei an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben soll, dass jegliche Form von Imperialismus, auch der amerikanische, aus demokratischer Sicht in Frage gestellt werden sollte).
Schritte der persönlichen Entwicklung
Aggressive Wutbotschaften ziehen verletze Menschen mit einem regressiven traumatisierten inneren Kind an. Der weiche Kern der Traumatisierten sucht kompensatorisch nach einem Ausgleich in scheinbarer Stärke (und leider nicht in der Reife!). Denn, Gleich und Gleich gesellt sich gern. Es ist einfacher, sich in der unreflektierten Wut zu vereinen als in der Reife des erwachsenen Menschen (die Introspektionsfähigkeit und Verantwortungsübernahme voraussetzt).
Warum die Menschheit sich aktuell rückwärts entwickelt ist wohl vielschichtigen Ursachen zuzuschreiben und bleibt letztlich ein Mysterium. Sicher ist einzig, dass die Zunahme von struktureller und physischer Gewalt zu mehr Schmerz führt. Schmerz kann, wenn er richtig verarbeitet wird, zu Bewusstsein führen (lernen durch Krisen). Vielleicht ist deshalb der aktuelle Rückfall auch nur eine Vorbereitung auf einen Quantensprung im Bereich des Bewusstseins (Übertritt ins integrale Bewusstsein).
Sicher ist auch, dass dieser Schritt nur durch die Bewusstseinsentwicklung jedes einzelnen passieren kann, eine Reifung, bei der jeder Mensch seine eigenen Schatten integriert. Frieden ist nur möglich, wenn ich zuerst den Frieden in mir finde. In diesem Sinne verstehe ich auch meine Arbeit mit der Integralen Schattenarbeit auf der Grundlage der Lebensmatrix (siehe Coaching-Ausbildung, Jahresgruppe und Erfahrungstag Lebensmatrix) nicht nur als Impulse des persönlichen Wachstums, sondern auch als Grundlage einer reifen und weisen Gesellschaft.