Skip to main content

Auf dem Weg zur Verbundenheit und Authentizität

Wie in einer verakademisierten Leistungs-Welt Menschsein trotzdem gelingen kann

Unsere Welt ist einseitig. Gefördert wird durch das Bildungssystem vor allem die kognitive Intelligenz. Andere Kompetenzen wie die moralische, ästhetische, emotionale oder praktische Intelligenz bleiben oft auf der Strecke. Die aus meiner Sicht aber wichtigste Kompetenz, nämlich die des Mensch-Seins an sich (was für mich auch die spirituelle Intelligenz ist) findet leider am wenigsten Beachtung. Ein Beitrag zu Erfahrungen, wie Menschsein trotzdem gelingen kann, wenn Zugänge zur eigenen Tiefe geschaffen werden.

Lernen jenseits des logischen Denkens und sprachlicher Intelligenz

Kennst Du das? Meine Lieblingsfächer in der Schule waren Zeichnen und Werken. Ich liebte es kreativ zu sein. Durch meine Geschicklichkeit entstanden etliche Werke, die mich mit Freude erfüllten. Weniger erfreulich war es jedoch, bald zu spüren, dass die Freude auf wenig Anerkennung in meinem Umfeld stiess. Was nämlich offenbar in unserer Gesellschaft wirklich zählte waren die Leistungen in Mathematik und Sprachen. Sie, die sogenannten Haupt-Fächer, sind es, die in der Leistungsgesellschaft wirklich zählen. In meiner Arbeit als Therapeut und Coach mit KlientInnen realisierte ich aber immer mehr, dass es noch einen bedeutend wichtigeren blinden Fleck gibt in unserer Bildungslandschaft.

Was man nämlich in unseren Schulen komischerweise gar nicht lernt, ist der Umgang mit eigenen Emotionen, mit den eigenen Charakter-Stärken und -Schwächen, die Regulation von Nähe und Distanz, des Verbundenseins und die Authentizität, schlicht das Mensch-Sein. Der Mensch kommt ja ohne Gebrauchsanweisung auf die Welt . Meist tappt er dann als blinde Kuh durchs Leben und macht immer wieder die selben Fehler, die aus erlernten Mustern der Kindheit stammen. Wie kann der Ausstieg aus diesem Hamsterrad gelingen?

Zugänge aus der Frosch- und Vogel-Perspektive

Veränderung gelingt, wenn wir uns neue Perspektiven und Handlungsräume schaffen. Beratung und Coaching kann hier hilfreich sein. Coaching besteht im Wesentlichen aus einer Perspektiven-Erweiterung. Man blickt aus einer sicheren Distanz aus der Vogel- oder Frosch-Perspektive auf sich selbst und sein Leben.

Wenn man aus dieser Optik dann hinderliche Muster erkennt, geht es darum, diese zu transformieren. Das ist nicht immer einfach! So meinte ein Klient zu mir einst in der ersten Sitzung: „Herr Bertsch, ich weiss, wie ich ticke, ich weiss sogar, woher diese unliebsamen Muster stammen. All das hilft mir aber nicht, mich anders zu verhalten.“

Wer sich selber wirklich verändern will, muss den Weg in die eigenen Untiefen auf sich nehmen. Eine Fähigkeit, die eben nur die allerwenigsten in ihrer Sozialisation mit auf ihren Weg bekommen haben, schlicht, weil wir in aller Regel in unserem frühen Werden zu wenig Bindung (Mutter) und Sicherheit (Vater) erfahren haben.

Die drei Ebenen im Coaching

In meiner Arbeit geht es darum, mit sich selber in Kontakt zu kommen und Bindungstraumata zu transformieren. Das ist das Ziel des Integralen Tiefen Coachings (ITC). Wir sprechen hier von drei Ebenen, auf denen Transformation geschehen kann:

Stufe 1: Auf der bewussten Symptomebene. Beispiel: Manuel hat einen Konflikt mit dem Vorgesetzten und sucht nach anderen, konstruktiven Umgangsformen.

Stufe 2: Auf der meist schwach bewussten Temperamenten-Ebene: Manuel ist innerlich unruhig und reagiert in Konflikten hitzig und unkontrolliert.

Stufe 3: Auf der unbewussten Seelen-Ebene: Manuel erfuhr wenig fürsorglich einhüllende, liebevolle Zuwendung und ist deswegen unruhig und hitzig.

Diese Darstellung ist nicht allzu schwer nachvollziehbar. Noch klarer wird es, wenn wir aus der Betroffenen-Sicht, aus der Sicht des Coachees, das Erleben dieser Ebenen erfahren können. Schauen wir das in der Praxis am Beispiel von Sandra an (Name geändert).

Der Ausgangspunkt für Sandra, eine in der Ausbildung befindliche Coachee, ist die Schwierigkeit, in der Kunden-Akquise auf mögliche Klientinnen und Klienten zuzugehen. Schauen wir nun, wie diese Ebenen erlebt und transformiert werden können.

Transformations-Coaching auf der Stufe 2

Wir gehen in dieser Phase schon einen Schritt tiefer als die Stufe 1, die vielleicht auch als Gesprächs-Therapie bezeichnet werden kann. Es geht also nicht nur darum, aus dem Gespräch direkte kognitive Erkenntnisse zu bekommen, sondern einen Erfahrungsraum zu schaffen, wo Coachees (KlientInnen) direkt neue Sichtweisen und Ressourcen und innere Teile erleben (in diesem Beispiel einen inneren Teil, der nach vorne prescht und einen ängstlichen, der blockiert). Hören wir, wie Sandra das erlebt hat:

Sandra: „Während ein Teil von mir einfach mal loslegen möchte, fühlt sich ein anderer völlig blockiert vor Angst. Mit dem Ziel, die beiden Positionen einander etwas anzunähern, schlägt Martin einen „Dialog mit dem leeren Stuhl“ vor. Abwechselnd nehme ich eine der beiden Positionen ein und äussere die Empfindungen und Sichtweisen der beiden Anteile. Nach einigen Positionswechseln nähern sich die beiden überschäumenden Teile einander an.“ 

Sandra empfindet schon diese Arbeit als sehr hilfreich, weil sie spürt, dass dieser innere Konflikt auf der bewussten Ebene bearbeitbar ist, diese Teile in Dialog treten können und so eine Befriedung stattfindet.

2. Transformationsarbeit auf einer tieferen Bewusstseins-Ebene

Diese Ebene ermöglicht Zugänge, wo das Selbst innere Anteile begegnet und heilt.

Sandra: „Martin fragt: ‚Braucht einer der Anteile noch etwas Unterstützung?‘ Ich empfinde es so, dass beide Teile noch Zuwendung brauchen. Martin: ‚Du bist nun deine Therapeutin, stell dich hinter den Stuhl, spüre, was der Anteil braucht und lass es ihm zufliessen.‘ Ich stelle mich hinter den Stuhl und versuche wahrzunehmen, was der Anteil ‚Begeistert loslegen‘ benötigt. Das braucht ein bisschen Zeit. Ich habe den Eindruck, dass der so begeistert wirkende Anteil eigentlich schlicht Angst hat, Wichtiges zu verpassen. Ich übermittle ihm: ‚Spür dich selbst. Du musst nicht auf jeden Zug aufspringen.‘ Während ich ihm Schutz und Beistand zufliessen lasse, empfinde ich, wie sich diese Angst auflöst. Anschliessend setze ich mich selbst auf diesen Stuhl, um die Unterstützung abzuholen. Zuerst fühle ich mich (wie vorher) sehr getrieben, irgendwie kindlich. Dann merke ich, wie der Zuspruch einsickert, ich beginne, mich älter und ruhiger zu fühlen. 

Nun ist der ängstlich blockierte Anteil dran. Ich stehe hinter dem Stuhl und übermittle ihm: ‚Spür, was um dich ist, du bist nicht allein. Um dich ist eine ganze Welt voller Möglichkeiten.‘ Auch ihm lasse ich Schutz und Beistand zukommen. Als ich mich dann auf den Stuhl setze, empfinde ich zuerst wieder Anspannung und Enge, die sich dann langsam lösen. Eine Empfindung von Struktur bleibt bestehen, ich habe den Eindruck, dass dieser Anteil angehört werden will, dass er argumentieren und reflektieren will. Nach dieser Phase leite ich für mich ab, was ich für mein weiteres Vorgehen in der Kundenakquisition mitnehmen will. Ich konnte die Situation merklich klären und werde mein angepasstes Ziel mit deutlich mehr innerer Ruhe anstreben können.“ 

3. Transformationsarbeit auf der Tiefen-Ebene, Stufe 3

Wir arbeiten erneut mit Sandra am Grund-Thema, diesmal mit Bild-Karten, die innere Anteile und Bedürfnisse zeigen:

Sandra: „Auf der Karte umhüllt die junge Mutter liebevoll ihr Kind. An diesem Punkt packen mich die Emotionen. Es kommen nicht einfach Emotionen hoch, sondern es fühlt sich an, als würde tief innen in der Seele etwas zerreissen und daraus (wahrscheinlich lang angestaute) Gefühle hervorsprudeln . Nicht differenziert, aber machtvoll. 

Schmerz und Verzweiflung kommen hoch. Ich merke aber, dass eine Sehnsucht nach umhüllender Liebe da ist, nehme sie einfach wahr – sie flaut langsam ab, macht einer Resignation und Trauer platz. Martin: ‚Kannst du dich von Gott mit Liebe umhüllen lassen?‘ Ich fühle hin und merke, dass da nichts durchkommt. Vor dem inneren Auge nehme ich einen pechschwarzen Raum um mich herum wahr. Immerhin stehe ich auf festem Boden. Ich fühle Ärger hochkommen. Um mich herum sieht es aus wie blaugraue Wellen, die immer höher schlagen. Ich lasse sie toben, schaue ihnen einfach zu, mit Martins Unterstützung. Da nehme ich hoch oben Helligkeit wahr. Während die Wellen weiter toben, senkt sich das Licht langsam zu mir herunter, bis es mich umhüllt. Ich versuche, offen zu bleiben für das, was passieren will. Erst mal nichts. Ich fühle nichts, kann keinen Kontakt zu dem Licht herstellen. Es kommt nicht auf mich zu, sondern ist einfach da. Ich versuche, innerlich weiter zu werden, strecke mich danach aus. Da habe ich den Eindruck, meine Hände nach dem Licht ausstrecken zu können, nicht nur zwei, sondern ganz viele Hände. Und das Licht streckt ebenso viele Hände zu mir aus, die ich ergreife. Augenblicklich empfinde ich die Lösung, die Befreiung. Ich empfinde es so, dass ich vorher keine emotionalen Hände hatte, um Kontakt aufnehmen zu können, und dass ich jetzt Hände habe, sogar ganz viele. Das fühlt sich gut an. Ich empfinde, dass da gerade etwas Grosses passiert.“ 

Neuronale Veränderung und emotionale Prozesse

Wir wissen heute, dass der Spruch ‚Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr‘ falsch ist. Unser Gehirn ist veränderbar. Neuronale Verschaltungen im Gehirn können sich aufbauen, verändern und wieder abbauen. In Experimenten konnte gezeigt werden, dass beim Erlernen von neuen Fähigkeiten, zum Beispiel Klavier spielen, neue Verschaltungen im Gehirn schon nach einigen Stunden aufgebaut und gestärkt werden. Wir sprechen hier von Neuroplastizität, der Fähigkeit des Gehirns, sich an erforderliche Leistungen anzupassen.

Nicht jedes Gehirn ist gleichermassen lernfähig. Um neue Verschaltungen aufzubauen erklärt zum Beispiel der Neurobiologe Gerald Hüther, braucht es die Ausschüttung von neuroplastischen Botenstoffen (Adreanlin, Noradrenalin, Dopamin, Endorphine etc.). Das heisst, unser Gehirn ist dann veränderbar und lernfähig, wenn eine Erregung oder Begeisterung da ist. Dies ist sozusagen der Dünger für unser Gehirn.

Um nun also tief sitzende erlernte negative Muster aufzulösen reichen Gespräche, die vor sich herplätschern, nicht aus. Es braucht eine emotionale Erregung (Arousal), etwas, das uns in der Tiefe berührt. Sandra schildert in ihrem Erlebnisbericht eindrücklich die unterschiedlichen Stufen des Ergriffen-Seins in ihrer seelischen Transformation.

Bedingungen neuronaler Veränderung

Es ist in der Psychotherapie-Forschung unbestritten, dass der bedeutsamste Wirkfaktor für positive Veränderung in der Beziehung von TherapeutIn und KlientIn besteht. Kein noch so umfassendes Wissen noch langjährige Erfahrung und Methoden-Kompetenz können diesen Faktor ersetzen. So berichtet etwa Sandra vom Gefühl, Sicherheit zu erfahren, sich im Vertrauen fallen lassen zu können und der Gewissheit, aufgefangen zu werden. Dieses Vertrauen auf der Seelenebene, das nicht in seichten netten Kontakten entsteht, sondern dann, wenn die tiefen Gefühlen auftauchen, ist der entscheidende Faktor in der Veränderungsarbeit.

Aus diesem Grund ist für mich für das Erlernen zentraler Lebens- und Selbstheilungs-Kompetenzen die Persönlichkeites-Kompetenz das zentrale Element. Diese Kompetenz beinhaltet, mit sich selber in Kontakt zu gehen, sich und seine Zustände zu fühlen und sich dadurch regulieren zu können. Wer Bindung mit anderen sicher gestalten möchte, muss zunächst zu sich selber eine Bindung aufbauen. In der Regel ist dies ein Prozess, der eine liebevolle Zuwendung und eine Nachnährung von unerfüllten Bedürfnissen erfordert. Man spricht in diesem Kontext auch von Nachbeelterung (Reparenting), Nachbemutterung und Nachbevaterung.

Diese Prozess bauen auf Bindung, Beziehung und Dialog auf. Die konstante Beziehung zu einem Therapeuten oder einer Therapeutin oder noch besser zu einer Gruppe ist entscheidend wichtig. Der Trauma-Therapeut Pete Walker spricht in diesem Zusammenhang auch von Social-Reparenting. Das heisst, dass gerade auch Gruppen von Gleichgesinnten, wo Verletzlichkeit und liebevolle Zuwendung geübt werden können, wichtige Orte der Heilung sind für Menschen, die sich selber auf dem Weg verloren haben.

Eine Gemeinschaft der Zuwendung und des Vertrauens

In meiner Ausbildung und der Jahresgruppe entstehen genau solche kleinen Oasen der Heilung und tiefen Selbstwerdung. Die immer mehr fordernde Leistungsgesellschaft und die zunehmende Digitalisierung sind Umgebungsbedingungen, die solche Heiloasen immer dringlicher notwendig machen, um gesund zu bleiben. Gesund sowohl auf der seelischen wie auch der körperlichen Ebene.

Wir leben in spannenden Zeiten in der die unterschiedlichen Haltungen immer deutlicher hervortreten und auch gegeneinanderprallen. Dieses Bild zeigt sich nicht zuletzt im amerikanischen Wahlkampf, wo es letztlich so ist, dass die Optionen unterschiedlicher kaum sein könnten: Lüge gegen Wahrheit, Trennung gegen Vertrauen und Zuwendung, Profit gegen menschliche Werte und Integrität…

Es wird entscheidend sein, auf welche Seite wir uns stellen. Sicher aber ist, dass eine gesunde Gesellschaft der Kooperation und der Menschlichkeit gesunde Menschen braucht, die gelernt haben, mit sich selber in Kontakt zu sein.